Zärtlicher Nachtwind - Kleypas, L: Zärtlicher Nachtwind - Tempt me at Twilight
Jay Harry Rutledge gekommen, zunächst als sein Diener, dann als sein Assistent.
Jake hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Menschen getroffen, der so war wie Harry Rutledge – exzentrisch, ehrgeizig, manipulativ, anspruchsvoll. Er kannte niemanden, der die menschliche Natur so gut verstand wie Rutledge. Der Hotelier war in der Lage, sich in nur wenigen Minuten ein umfassendes Bild von seinem Gegenüber zu machen, und er lag absolut immer richtig. Er wusste, wie er andere Menschen dazu brachte, das zu tun, was er wollte, und er setzte seinen Willen fast immer durch.
Jake schien es, als gönne Rutledge seinem Kopf niemals eine Pause, nicht einmal für den notwendigen Schlaf. Er war rund um die Uhr mit irgendetwas beschäftigt. Jake hatte schon beobachtet, wie er sich gleichzeitig über ein Problem den Kopf zermartert, einen Brief geschrieben und noch dazu eine Unterhaltung geführt hatte. Sein Hunger nach Informationen war unstillbar, und er besaß die besondere Gabe, sich alles zu merken. Hatte Rutledge einmal etwas gesehen, gelesen oder gehört, war es für immer in seinem Gedächtnis gespeichert. Es war unmöglich, ihn anzulügen, und war doch einmal jemand töricht genug, es zu versuchen, wurde er aus dem Weg geschafft.
Rutledge war nicht über freundliche Gesten oder Rücksichtnahme erhaben, und er verlor selten die Fassung. Dennoch war sich Jake nicht sicher, wie viel er sich tatsächlich aus seinen Mitmenschen machte oder ob sie ihm überhaupt etwas bedeuteten. In seinem Inneren war er kalt wie ein Eisberg. Und so viel Jake auch über Harry Rutledge wusste, so waren sie einander doch fremd.
Aber das tat nichts zur Sache. Jake hätte für diesen Mann sein Leben gegeben. Der Hotelier hatte die Loyalität seiner gesamten Dienerschaft sichergestellt. Sie mussten hart arbeiten, wurden aber stets gut behandelt und großzügig entlohnt. Dafür gaben sie alles, um seine Privatsphäre zu schützen. Rutledges Freundeskreis war enorm, doch wurde über diese Freundschaften so gut wie nie gesprochen. Und er suchte sich die Leute, die er in seinen engsten Kreis aufnahm, sehr genau aus.
Erwartungsgemäß sah sich Rutledge von Frauen regelrecht umzingelt – seine unerschöpfliche Energie fand nicht selten ein Ventil in den Armen der einen oder anderen Schönheit. Beim ersten Anzeichen aber, dass die Dame auch nur einen Hauch echter Zuneigung für ihn empfand, wurde umgehend Jake an ihren Wohnsitz entsandt, einen Brief auszuliefern, der jeglichen weiteren Kontakt ausschloss. Mit anderen Worten, wurde Jake dazu verdammt, all die Tränen, Wut und andere wie auch immer geartete Gefühlsausbrüche abzufangen, die Rutledge nicht ertragen konnte. Und Jake hätte aufrichtiges Mitleid mit den Frauen gehabt, wäre Rutledge nicht so geschickt gewesen, jedem Brief ein sündhaft teures Schmuckstück beizulegen, das ein gekränktes Frauenherz im Nu wieder besänftigte.
Es gab Bereiche in Rutledges Leben, zu denen Frauen keinen Zutritt hatten, etwa seine Privaträume und die Raritätenkammer. Dorthin zog er sich zurück, um sich mit besonders schwierigen Problemen auseinanderzusetzen. Und in den vielen Nächten, in denen er keinen Schlaf fand, setzte er sich an seinen Zeichentisch und widmete sich der Herstellung kleiner Automaten, bastelte mit Uhrwerken und Draht und Papier, um sein überaktives Gehirn zu beruhigen.
Als Jake nun von einem Hausmädchen erfuhr, dass sich Rutledge gemeinsam mit einer jungen Frau in seiner Raritätenkammer aufgehalten hatte, wusste er, dass etwas sehr Bedeutsames vorgefallen war.
Jake beeilte sich, sein Frühstück zu beenden, das er in der Hotelküche einnahm, und genehmigte sich hastig noch etwas von den Eiern mit knusprig gebratenem Speck. Normalerweise hätte er sich die Zeit genommen, das Mahl zu genießen. Heute aber wollte er um jeden Preis pünktlich zu seiner allmorgendlichen Besprechung mit Rutledge eintreffen.
»Nicht so hastig«, mahnte Andre Broussard. Rutledge hatte den Koch zwei Jahre zuvor dem französischen Botschafter abgeworben. Broussard war der einzige Mann im Hotel, der vermutlich noch weniger schlief als Rutledge. Der junge Koch war dafür bekannt, dass er um drei Uhr morgens aufstand, um sein Tagewerk vorzubereiten. Jeden Morgen war er der Erste auf den Märkten, um sich persönlich das beste Obst und Gemüse auszusuchen. Er hatte blondes Haar und war von zierlicher Gestalt, doch besaß er die Disziplin und den Willen eines Heerführers.
Der Koch ließ den Löffel
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