Zärtlicher Sturm
Brief geschrieben habe, aber ich hätte nicht geglaubt, daß Joel die Dinge so schnell regeln könnte. Aber er hat es getan. Und jetzt muß ich Dir gestehen, daß ich Dich belogen habe.
Oh, Rissy, Du mußt es einfach verstehen. Als Du geschrieben hast, daß Du augenblicklich wieder nach Hause kommen willst, wußte ich einfach nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Ich konnte nur versuchen, Dich davon zu überzeugen, daß das nicht geht. Es war einfach noch zu früh. Vater war ganz krank vor Sorge um Dich, aber es war nie die Rede davon, die Hochzeit ausfallen zu lassen. Er war nicht bereit, auch nur ein Wort mit mir darüber zu reden, und ich dachte, wenn Du zurückkommst, zwingt er Dich, Joel zu heiraten. Verstehst Du, er wollte Edward Parrington gegenüber einfach nicht zugeben, daß Du fortgelaufen bist. In dem Punkt habe ich Dich belogen, Rissy. Er hat mit niemandem gesprochen, weil er viel zu sehr um Dich besorgt war, als daß er noch wütend hätte sein können. Am zweiten Tag nach Deiner Abreise ist es dazu gekommen. Ich war diejenige, die Deine Abwesenheit jedem gegenüber mit Ausflüchten vertuscht hat. Natürlich wären Sheila und andere Freundinnen von Dir gern gekommen, um Dich zu besuchen, solange Du krank bist, und daher habe ich ihnen gesagt, daß Du nicht krank bist, sondern Tante Sophie, und daß Du zu ihr gefahren bist, um Dich um sie zu kümmern.
Es glauben immer noch alle, daß Du vorhast, Joel zu heiraten, aber wir können immer noch behaupten, Du hättest es Dir anders überlegt, während Du fort warst. Später, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist, können wir dann öffentlich bekanntgeben, daß Joel und ich gemeinsam durchgebrannt sind. Auf die Weise erfährt niemand, daß Du ausgerissen bist. Das klingt sicher alles recht verzwickt, aber in Wirklichkeit ist es das gar nicht. Ich hätte Dich nie belogen, wenn ich nicht derart verzweifelt gewesen wäre, Rissy. Und glaube nicht, ich sei völlig herzlos gewesen, was Vater angeht. Ich habe ihm nicht gesagt, wo Du bist, aber ich habe ihn wissen lassen, daß Du geschrieben hast und daß es Dir gutgeht. Ich habe ihm auch gesagt, Du würdest bald wieder nach Hause kommen. Komm bitte wirklich bald, Rissy, ehe er vor Kummer krank wird.
Sei bitte nicht böse auf mich, Rissy. Ich habe wirklich versucht, Dir zu verstehen zu geben, daß alles gut ausgeht, als ich Dir gesagt habe, Du solltest nicht verzweifeln. Erinnerst Du Dich? Du hast es doch sicher verstanden?
Sharisse steckte den Brief wieder ein. Es half nichts. Sie konnte sich immer noch kein Urteil darüber bilden, ob Stephanie ihr diesmal die Wahrheit schrieb oder ob ihr Vater herausgefunden hatte, daß Stephanie wußte, wo sie war, und ob er sie gezwungen hatte, diesen Brief zu schreiben, damit Sharisse wieder nach Hause kam. Würde sie Marcus Hammond von seiner schlimmsten Seite erleben, oder hatte er sich wirklich so große Sorgen um sie gemacht, daß er sie mit Freuden wieder aufnehmen würde?
Der Gedanke, Stephanie könnte ihr in diesem Brief etwas vorgemacht haben, war ihr verhaßt. Aber noch weit schlimmer war es zu akzeptieren, daß dieser erste Brief eine Lüge gewesen sein sollte. Einen Fremden mit Lügen hinters Licht zu führen, wie sie es getan hatte, war eine Sache. Aber die eigene Schwester bewußt hinters Licht zu führen! Schließlich war dieser erste Brief indirekt schuld daran, daß sie jetzt verheiratet war! Wenn er nicht zu dem Zeitpunkt gekommen wäre, zu dem er gekommen war, hätte sie an diesem Tag vielleicht eher ihre Sinne beisammen gehabt. Es war einfach unfaßbar, daß die süße kleine Stephanie so gewissenlos sein konnte, selbst, wenn es dabei um Liebe ging.
Sharisse wünschte, das sei auf der Heimreise ihre einzige Sorge gewesen. Aber nein. Sie mußte feststellen, daß sie Lucas vermißte. Sie hätte es selbst nicht für möglich gehalten, und doch war sie noch keinen Tag aus Newcomb verschwunden, als sich deutlich herausstellte, daß das, was sie empfand, reine Melancholie war.
Es war ihm immer gelungen, ihr nahezukommen, ob sie es nun gewollt hatte oder nicht. Er konnte sie belustigen, sie aus der Fassung bringen, ihr sogar Angst einjagen und natürlich konnte er Schauer der Wonne in ihr wecken. Ganz gleich, was es auch war – als sie mit ihm zusammen war, hatte sie immer irgend etwas empfunden.
Und jetzt, da sie ihn vermißte, hatte sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle. Sie war wütend auf ihre Schwester, besorgt um ihren Vater, und die Gefühle,
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