Zärtlichkeit des Lebens
drehte sich fast der Magen um. Sie schüttelte den Kopf, wollte es nicht glauben.
»Max!«
Sie packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn.
»Max!«
Schließlich rappelte sie sich hoch und rannte zum Telefon auf Haladays Schreibtisch. Zweimal mußte sie wählten, ehe das Freizeichen ertönte. »Byron«, sagte sie, sowie sie das Klicken hörte, als abgehoben wurde. »Byron!«
»Sarah?«
»Komm schnell.« Sie ließ den Hörer fallen und eilte zu Haladay zurück, ignorierte ihre schreckliche Vermutung und suchte erst an seinem Handgelenk den Puls, dann am Hals.
Verzweifelt zerrte sie an seiner Krawatte herum, um sie zu lockern. Das Herz hämmerte ihr gegen die Rippen, und sie fluchte, weil ihr die Hände zitterten.
Als Byron sie fand, knöpfte sie Max gerade das Hemd auf.
Innerhalb von Sekunden war er bei ihr und stieß sie zur Seite. Er brauchte nur einen flüchtigen Blick auf Max zu werfen, um zu erkennen, daß es keinen Sinn mehr hatte. Dennoch suchte er wie Sarah nach dem Puls. Er konnte Sarahs stoßweisen Atem hören, als sie sich ihm gegenüber neben Max hinkniete. Vorsichtig streckte Byron die Hand aus und drückte Max die Augen zu.
Sarah protestierte stotternd.
»Nein, Byron. Nein, nein, es muß doch noch etwas geben…«
Sie unterdrückte eine neue Woge der Übelkeit. »Wir müssen ihm doch noch irgendwie helfen.«
Einen Moment lang knieten beide schweigend neben Haladay.
»Er ist tot, Sarah. Schon seit Stunden. Wir können nichts mehr für ihn tun.«
Er sah, wie ihr Gesicht bei seinen Worten erstarrte, ehe sie den Kopf auf Haladays Brust legte.
Während des Trauergottesdienstes stand Sarah gefaßt und in aufrechter Haltung da. Sie betrachtete den nächsten Grabstein und dachte benommen an das, was Max von seiner Frau erzählt hatte. Als sie und Byron dann allein am Grab standen, legte sie eine Nelke auf den Sarg. Wortlos nahm Byron sie am Arm und führte sie weg.
Sie setzten sich auf den Rücksitz der Limousine, der durch eine schalldichte Scheibe vom Fahrer abgetrennt war. Zum erstenmal seit einer Stunde machte Sarah den Mund auf.
»Beim Tod meiner Eltern war ich wütend und traurig. Aber vor allem fühlte ich mich schuldig. Sie waren so gute Menschen und hatten mir Liebe und Geborgenheit geschenkt. Ich liebte sie beide und nahm sie als selbstverständlich hin. Nach ihrem plötzlichen Tod erkannte ich, daß ich ihnen nie gesagt hatte, wie sehr ich sie liebte.«
Seufzend schaute sie aus dem Fenster. »Am Tag vor seinem Tod war ich bei Max im Büro. In diesen paar Minuten fühlte ich mich ihm so nahe. Und er sagte…« Ihr versagte die Stimme, und kopfschüttelnd versuchte sie, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Er sagte, er sei ein alter Mann, aber er habe sich noch nicht darauf eingestellt. Grimmig unterdrückte er ein Lächeln und befahl mir, ich solle mich hinausscheren, er müsse noch arbeiten. Ich hatte ihn lieb, so wie er war. Und jetzt lebt er nicht mehr.«
Byron erwiderte nichts. Sarah hatte keine Anzeichen von Trauer an ihm wahrgenommen; wenn er Schmerz empfand, so behielt er das wohl für sich. Doch erschien er ihr jetzt fremder als damals, als sie zum erstenmal sein Büro betreten hatte. Sie holte tief Luft, des Kämpfens müde. »Ich möchte nicht in den Sitzungssaal, Byron, und mir die Testamentseröffnung anhören.«
»Aber deine Anwesenheit ist unbedingt nötig.« Das klang entschieden und endgültig. »Aus verschiedenen Gründen muß das möglichst bald vonstatten gehen. Ein Führungswechsel in einem Unternehmen von der Größenordnung Haladays ist immer eine gefährliche Zeit. Es gibt Kredite, Verträge und Kontrakte, Hunderte von größeren und kleineren Angelegenheiten, um die man sich kümmern muß. Erst nach der Testamentseröffnung kann der Übergang stattfinden.«
»Das hat doch nichts mit mir zu tun.« Sie lehnte den Kopf gegen den Sitz.
»Es ist wichtig, daß du dabei bist.«
Er wandte sich ab, und sie schwiegen den Rest der Fahrt.
Im Sitzungssaal roch es nach Leder und Möbelpolitur. Ein sechs Meter langer Walnußtisch mit hochlehnigen Stühlen und gepolsterten Sitzflächen beherrschte den Raum. An jedem Platz standen Waterford-Kristallgläser. Die schweren Damastvorhänge vor den Fenstern waren zugezogen. Cassidy riß sie mit einem schnellen Ruck auf, und Tageslicht ergoß sich in den Raum.
Sarah spürte, daß Cassidys Trauer die Form von Wut annahm und empfand Mitgefühl für ihn. Sie sah zu, wie Kay Rupert lautlos die Wassergläser füllte. Als sie
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