Zahltag
für eine andere Wahl? Sein Blick ging wieder zu der Pistole. Er hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt, er war nicht einmal bei der Bundeswehr gewesen. Er hatte einfach nichts mit Kriegen, Kämpfen oder Waffen zu tun. Langsam machte sich die Verzweiflung breit. Wenn er doch nur mit jemandem sprechen könnte. Sein Freund Max wäre eine Möglichkeit gewesen, doch er konnte und wollte einfach nichts riskieren.
Moldawien — Februar 2002
Die letzten Tage war es etwas wärmer und Mila freute sich immer wieder auf den Besuch von Thomas und seiner Tochter Anna. Sie waren jetzt Freunde, hatte Anna gesagt, und was sie noch mehr freute und mit Stolz erfüllte, war die schöne Mütze, die sie geschenkt bekommen hatte. Sie hatte mal erwähnt, dass die Mütze von Anna so wunderschön sei. Am nächsten Tag bekam sie eine weiße Wollmütze mit zwei kleinen Ohren, dieselbe, die Anna immer trug. Die Mütze war ganz weich und samtig und kuschelig warm. Nie wieder würde sie diese Mütze abnehmen. Selbst im Sommer würde sie sie tragen, das schwor sie sich. Sie konnte sich kaum daran erinnern, wann sie das letzte Mal ein Geschenk bekommen hatte. Mila hütete diese Mütze wie einen Schatz, sie bedeutete ihr alles. Die anderen Straßenkinder starrten sie neidvoll an, doch Mila wusste, wie sie vorgehen musste. Sie gab für die nächsten Tage ihr Essen an die anderen ab, dafür nahm ihr niemand die Mütze weg. Das machte ihr nichts aus. Sie aß ohnehin nie sehr viel. Ein paar Tage würde sie durchhalten. Und dann wäre die Mütze bei den anderen vergessen.
Heute — Wolfgang, ein Jahr nach der Entführung
Wolfgang verfolgte den Mann. Der Typ hatte kurz geschorene Haare, war etwas eins achtzig groß und ein muskelbepackter Kerl, der ihn mit einer Hand zerquetschen konnte. Er hatte diesen Kerl garantiert noch nie in seinem Leben gesehen und konnte sich nicht vorstellen, was mit ihm zu tun haben sollte. Er kannte die Leute, deren Häuser er für Spott Preise an den Mann gebracht hatte — dieser Typ war garantiert nicht unter ihnen. Er trug eine Lederjacke und eine dunkelblaue Jeanshose, dazu Springerstiefel. Sein Gang war selbstbewusst, hart, ganz anders als Wolfgangs elegante Art. Zweimal fuhr er mit einer U-Bahn. Er ging in verschiedene Bordelle und begrüßte die Türsteher immer mit Handschlag, wirkte wie jemand Wichtiges in der Szene. Er sprach mehrere Sprachen, das hörte Wolfgang ebenfalls heraus. Da er noch nie jemanden verfolgt hatte, verlor er den Typen zweimal. Er war aufgeregt, voller Adrenalin und die Waffe fühlte sich schwer an in seiner Jackentasche. Seine Hände waren patschnass und er hatte Gänsehaut. Der Kerl hatte definitiv Dreck am Stecken. Aber was hatte Wolfgang damit zu tun?
Nach drei Tagen beschloss er , mit der Verfolgung aufzuhören. Er konnte ihn unmöglich mitten auf der Straße ermorden, da musste er sich etwas Besseres einfallen lassen, und zwar schnell. Auf dem Weg zurück zu seiner Pension fasste Wolfgang einen folgenschweren Entschluss: Er ging schnurstracks auf das Wilde Pferd zu. Diesmal war ein anderes Mädchen an der Rezeption, das war sehr gut.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich habe meine Karte im Zimmer vergessen. Könnten Sie mir eine neue ausstellen?“
„Wie ist ihre Zimmernummer?“
„Neun.“
Sie gab etwas in ihrem Computer ein, wie wirkte jung, doch schon etwas verbraucht. So, als hätte sie ein schweres Leben. „Wie ist ihr Name?“
„Jefim Sorokin.“
„Okay. Hier ihre neue Karte.“ Sie übereichte sie ihm und er spazierte in ‚sein’ Zimmer.
Er wusste zwar, dass Jefim Sorokin nicht im Zimmer war, doch er war dennoch nervös. Er zögerte , bevor er die Tür öffnete, hatte Angst, dass jemand drin sein könnte. Vielleicht hatte der Typ eine Freundin dabei? Leise öffnete er die Tür und betrag vorsichtig den Raum, der nach abgestandener Luft roch. Niemand war hier. Es war unaufgeräumt. Das Bett war nicht hergerichtet und überall lagen Klamotten herum. Was wollte er hier? Er ging ins Badezimmer und fand nur eine Zahnbürste, die noch nass war, und ein Handtuch der Pension. Sollte er hier auf ihn warten? Sollte er ihn hier töten? Die Rezeptionistin würde sich an ihr erinnern. Sie würde denken, er wäre es gewesen. Vielleicht hatten sie auch Überwachungskameras im Eingang. Es wäre also eine blöde Idee, ihn hier zu töten. Auf der anderen Seite wäre es egal. Auch wenn er ihn woanders töten würde, er wäre jetzt sowieso auf der Überwachungskamera. Jetzt
Weitere Kostenlose Bücher