Zahltag
gab es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder es tun oder einfach abhauen und zur Polizei zu gehen.
Er beschloss zu warten. Er musste es tun. Er würde keine Memme sein. Er war immer schon ein Mitläufer gewesen — heute würde sich das ändern. Sein Sohn sollte wissen, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Wolfgang setzte sich in den Sessel, der vor dem Fenster stand. Er hatte somit den Blick auf die Tür. Es vergingen Stunden, die Wolfgang beinahe verrückt machten. Es hielt ihn nicht auf dem Stuhl. Er ging auf und ab, hörte auf jedes Geräusch, das aus dem Flur vor dem Zimmer kam.
Als er nach vielen Stunden des Wartens endlich die Tür hörte, erschrak er so fürchterlich, dass er beinahe die Waffe aus der Hand fallen ließ. Der Typ vor der Türe fluchte , seine Karte funktionierte anscheinend nicht. Ja, klar — weil Wolfgang sich eine neue besorgt hatte. Die alte Karte wurde dann wahrscheinlich gesperrt. Jetzt wurde Wolfgang wirklich panisch. Wenn die gleiche Rezeptionistin wie am Nachmittag Dienst hatte, wäre er aufgeflogen. Ihr würde auffallen, dass etwas nicht stimmte. Es vergingen aber nur ein paar Minuten, bis er die Tür erneut hörte. Dieses Mal öffnete sie sich und der Mann stand im Zimmer. Als er Wolfgang bemerkte, bekam sein Gesicht einen erstaunten Ausdruck. Er musterte ihn für ein paar Sekunden. Nicht ängstlich.
„Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Zimmer?“
Erst in diesem Moment fiel dem Kerl die Waffe in Wolfgangs Hand auf. Er ging einen Schritt zurück. Wolfgang zielte mit der Waffe direkt auf Jefim Sorokin. Würde er nicht schnell handeln, wäre es zu spät. Wolfgang fragte nichts, antworte nicht, dachte nicht mehr nach. Er drückte ab. Einmal. Zweimal. Der bullige Typ ging zu Boden. In seinem Gesicht lag immer noch ein fassungsloser Ausdruck. Der Schuss war laut gewesen, er würde Aufmerksamkeit erregen. Mit zitternden Händen stand Wolfgang im Zimmer. Er konnte sich nicht bewegen, war wie gelähmt. Er steckte sich die Waffe hinten in seine Hose. Panisch drehte er sich mehrmals um, ob er etwas vergessen hatte. Er zitterte. Dann fiel ihm ein, dass er los musste. Laufen. Er musste laufen. Dann hörte er Stimmen auf dem Flur.
„Hallo?“ Ist alles in Ordnung?“
Das war sicherlich die Rezeptionistin. Er musste raus. Raus aus diesem Zimmer. Weg von dem Toten. Er riss die Tür auf und rannte — vorbei an der verdutzten Frau. Er hörte ihren Schrei, als er fast schon auf der Straße war. Sie würde ihn erkennen, ihn beschreiben können. Er musste weg, weit weg. Ziellos rannte er die Straße entlang, vorbei an seinem Hotel. Er musste die Sachen zurücklassen — aber er brauchte seinen Laptop. Er hielt an, lief zurück und vorbei an dem alten Mann in sein Zimmer, packte seine Sachen zusammen und raste wieder hinaus. Der Mann beachtete ihn nicht. Wolfgang hörte Polizeisirenen. Schnell rannte er auf die U-Bahn-Station zu. Er sprang in einen einfahrenden Zug und setzte sich auf einen freien Platz. Eine Frau starrte ihn an. Als er ihren Blick erwiderte, wanderten ihre Augen woanders hin. Er schwitzte und zitterte. Er musste sich unbedingt beruhigen. Wie ging es nun weiter? Er hatte einen Mann getötet. Das war unglaublich! Fast musste er weinen. Die Verzweiflung machte sich breit, ihm wurde schlecht. Mit der Hand hielt er sich den Mund zu und musste würgen. Die Frau stand auf und suchte sich einen anderen Platz. Sie würden ihn finden. Keiner würde ihm glauben. Sein Sohn wäre verloren. Für immer. Sein Plan war schief gelaufen.
Moldawien — März 2002
Mila beobachtete Thomas und seine Tochter Anna. Sie kamen jetzt beinahe jeden Tag. Manchmal spielte sie mit Anna, doch meistens hatten sie nicht viel Zeit. Thomas wollte nicht, dass Anna alleine mit ihr spielte. Ein bisschen verstand sie das sogar. Sie war ein schmutziges Straßenkind. Doch heute war es besonders hektisch und sie konnte ein paar Minuten mit Anna spielen. Am Abend zuvor gab es eine schlimme Schießerei und mehrere Menschen wurden verletzt. Mila hatte zwar nichts mitbekommen, doch solche Dinge sprachen sich schnell herum. Es gab viele Straßengangs. Mila hatte aber keine Angst davor. Die interessierten sich nicht für sie. Sie musste sich nur vor dem schwarzen Auto in Acht nehmen. Das war bisher die einzige Gefahr für sie.
Heute — Wolfgang, ein Jahr nach der Entführung
Es war Nacht geworden in Berlin. Wolfgang war den ganzen Nachmittag mit der U-Bahn umhergeirrt. Er konnte seine Gedanken nicht sammeln,
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