Zahltag
»Zuerst habe ich nachgeschaut, was er dort deponiert hat. Als ich den
Toten mit den vor der Brust gekreuzten Armen gesehen habe, bin ich schnell
abgehauen.«
»Wieso haben Sie uns das nicht gemeldet?«, hakt Kalodimos
unerbittlich nach.
Tsobanas wirft ihm einen Blick zu. »Wenn man Dreck am Stecken hat,
hält man besser seinen Mund«, sagt er. »Euch hat man die Gehälter gekürzt und
die Zulagen gestrichen. Könnt ihr euch vorstellen, wie der Gefängnisfraß
mittlerweile schmeckt?«
Das Argument klingt so überzeugend, dass Kalodimos klein beigeben
muss.
[203] »Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit sich das alles zugetragen
hat?«, frage ich.
»Also, irgendwann zwischen zehn und elf. Eine genauere Uhrzeit kann
ich jetzt nicht angeben.«
»In Ordnung, das war’s. Sie können gehen, aber auf dem Revier müssen
Sie noch ein offizielles Vernehmungsprotokoll unterschreiben«, erörtere ich
ihm. »Damit ich Sie nicht mit dem Streifenwagen nach Athen holen muss.«
»Dann komme ich lieber gleich mit.« Augenscheinlich fühlt er sich in
meiner Gegenwart in Sicherheit.
Nun weiß ich ganz genau, wie der Mörder vorgegangen ist. Er hat den
Wagen in der Giokas-Straße abgestellt und sein Opfer bis zum Fundort der Leiche
geschleppt. Dort hat er sie fotografiert und ist mit dem leeren Sack unterm Arm
unbehelligt wieder abgezogen. Obwohl ich mittlerweile alle Details der Tat
kenne, bleibt der Täter selbst noch im Dunkeln. Andernfalls hätte ich die Beförderung
schon in der Tasche.
Wir kehren auf genau demselben Weg wieder zur Polizeiwache zurück.
Einmal halte ich kurz an, um mir die Giokas-Straße näher zu besehen. Der Mörder
hat sich eine Gegend ausgesucht, die nachts vollkommen verlassen daliegt.
Zweifellos hat er die Gegend gründlich erkundet, bevor er die Leiche
herbrachte.
Ich verabschiede mich von Dakakos und trete die Rückfahrt an. Als
ich mich Egaleo nähere, klingelt mein Handy.
»Fahr nicht nach Hause, sondern komm direkt zu Katerina«, höre ich
Adrianis Stimme. »Sie hat uns nämlich zum Abendessen eingeladen.«
»Ach so?«, wundere ich mich.
[204] »Ich kann mir den Grund schon denken. Obwohl ich sehr hoffe, dass
ich mich täusche«, sagt sie, bevor sie auflegt.
[205] 27
Katerina hat nichts besonders Aufwendiges zubereitet:
Hähnchen an Zitronensoße mit Kartoffeln und Reis. Vielleicht habe ich genau
deshalb, weil wir nicht oft bei Katerina essen, den Eindruck, dass sich ihre
Kochkünste ständig verbessern. Natürlich kann man sie nicht mit denen ihrer
Mutter vergleichen, doch auch Adriani hielt am Anfang unseres gemeinsamen
Lebens einem Vergleich mit meiner Mutter nicht stand.
Obwohl die Mahlzeit gut schmeckt, haben wir alle kein bisschen
Appetit. Katerina und Fanis stochern in ihrem Essen herum und warten nur auf
den geeigneten Augenblick, um uns eine Neuigkeit zu servieren, die sie uns
beiden – unabhängig voneinander und unter dem Siegel der Verschwiegenheit –
längst eröffnet haben und die wir nun mit gespielter Überraschung zur Kenntnis
nehmen müssen. Wie soll man auch Appetit entwickeln, wenn man wie gebannt auf
den Beginn einer Tragödie wartet, die besser ins antike Theater von Epidauros
als in Katerinas Wohnung gepasst hätte? Es herrscht eine derartige Anspannung,
dass Adriani sogar vergisst, die Kochkünste ihrer Tochter zu loben. Katerina
wartet ab, bis das Obst serviert ist, um endlich mit dem Thema herauszurücken,
um das es eigentlich geht.
»Es gibt gute Neuigkeiten: Man hat mir eine sehr interessante Stelle
angeboten«, teilt sie uns mit.
[206] »Ja, aber du hast doch einen Job!«, meint Adriani.
»Ja schon, aber der ist quasi ehrenamtlich, während die Arbeit, die
mir jetzt angeboten wird, sehr gut bezahlt ist«, hält ihr Katerina entgegen und
beschreibt uns nun zum zweiten Mal die Stelle, die man ihr angetragen hat.
»Weißt du, wo genau man dich hinschicken wird?«, fragt Adriani, als
ihre Tochter zu Ende gesprochen hat. Ich wundere mich über ihre Contenance, die
nichts durchschimmern lässt.
»Es gibt drei Alternativen: Entweder schickt man mich nach Eritrea
oder an die Elfenbeinküste, oder nach Uganda, wo nach dem Völkermord in Ruanda
viele Flüchtlinge der Tutsi-Minderheit leben.«
Ich merke, wie Adriani sich auf die Lippen beißt, um nicht mit dem
Ausruf herauszuplatzen: »Uganda! Hab ich’s doch gewusst!« Sie beherrscht sich
zwar gut, doch ganz hat sie sich nicht unter Kontrolle.
»Du willst wegen irgendeiner Stelle in Uganda oder Eritrea
Weitere Kostenlose Bücher