Zander, Judith
Ecki auch nur einen Moment aus ihrem Blick zu entlassen, ist
der Schnaps in ihrer Kehle verschwunden. Das leere Glas auf dem Tisch hält sie
immer noch fest. Sie hat es nicht aufgeknallt, sondern fast wie in Zeitlupe
heruntergleiten lassen. Und sie sieht ihn immer noch an. Erst jetzt trinkt er
sein Glas aus, verzieht dabei das Gesicht wie beim Rauchen, als hätte Ella ihn
gezwungen. »Von danke sagen hältste wohl nix!« Er lallt fast.
Ella zieht die Augenbrauen
hoch. »Oh, ich dacht, das Wort kennst du nich.« Sie grinst ihn an, ganz kurz,
und lässt die Mundwinkel sofort wieder fallen. Die einzige Geste, an der ich
ihre Nervosität ablesen kann. Daran, und wie sie das Glas festgehalten hat,
danach. Vielleicht.
»Ts«, macht Ecki.
Wir gehen hin, als kämen wir
gerade vom Klo, und doch wie Regisseur und Dramaturgin, hochzufrieden mit dieser
Szene. Ich setze mich neben Ella. Paul bleibt stehen, fragt, ob wir was trinken
wollen. Ecki winkt ab, als hätte er schon einen halben Kasten geleert. Mir ist
sehr nach Bier. Aber ich fürchte, ich kann meinem armen Mütterlein nicht noch
mehr Bedenken ins Herz pflanzen, sie wuchern darin wie verrückt, mehrmals
täglich versorgt mit dem Spezialdünger Mutterliebe. »Ne Cola.« Ella nickt.
»Hi, Romy«, sagt Ecki.
Vielleicht hat er vergessen, dass ich ihm vorhin schon über den Weg gelaufen
bin. Vielleicht hat er alles vergessen. Ich sage nichts. Ich sitze nur da, mit
Ella. Er lauert. Er zappelt mit den Knien rum. »Mann, seid ihr maulfaul!«
Wir sagen nichts. Wir sehen
uns nicht an, und ihn auch nicht. »Ts«, macht er. »Letztens warste
gesprächiger, Romy Plötz.« Dann steht er auf, plumpst noch mal zurück, steht
wieder auf. »Naja! Geh ick ma.«
Als Paul die Gläser abstellt,
stößt Ecki mit seinem Hintern noch mal gegen den Tisch, die Cola schwappt über.
»Sorry«, sagt er und grinst. Erst als er weg ist, im sicheren Hafen seiner
Kumpane eingetrudelt, rühren wir uns wieder, aber wir sehen uns immer noch
nicht an. Ella nippt an ihrer Cola, ich trinke nach und nach das ganze Glas
leer, ich merke es kaum und bin verwundert über den letzten Tropfen. Einer muss
jetzt was sagen, und einer bin natürlich ich, ich muss jetzt was sagen, bloß
was? Das Wetter: oh, es hat aufgehört zu regnen; die Musik: Mann, wie
bescheuert; der Abend: ach, na ja. Lasst uns gehen.
»Paul.«
Sein Name brennt in meinem
Bauch wie die Kohlensäure. Obwohl ich ihn gar nicht ausgesprochen habe. Weil
ich - weil nicht ich ihn ausgesprochen habe. Sondern? Ich habe ihn genau
gehört, wenn auch leise. Jemand muss ihn ausgesprochen haben. Mit Ellas Stimme.
Paul guckt sie an, sollte mich nicht wundern, wenn er auch einen Sinn dafür
hat. Ich merke das meistens genau, wenn jemand ein Wort zum ersten Mal
ausspricht. Vor allem bei mir selbst. Ich weiß nie, was ich davon halten soll.
Schon gar nicht jetzt.
»Ich muss dir was sagen«, sagt
Ella. Zu Paul.
»Was?«, fragt er.
Sie wirft mir einen Blick zu,
den ich normalerweise als Aufforderung zu schleunigster Entfernung gedeutet
hätte. Aber das glaub ich einfach nicht. Sie ist doch nicht etwa drauf und
dran, aus welch desperater Übergeschnapptheit auch immer, ihm etwas zu sagen,
das mich nichts angeht. Und ob mich das was angeht! Trotzdem frage ich, so kalt
wie noch möglich: »Soll ich gehen?«
»Nein«, Ella sieht mich
verwundert an, »du weißt das doch auch noch nicht, oder?«
»Was?«, frage ich gereizt. Wie
soll ich wissen, ob ich etwas weiß, von dem ich nicht weiß, was es ist? Ich
verspüre eine gemeine Lust in mir, Ella die Grenzen ihrer Logik
auseinanderzusetzen. Aber sie hat sich, meines gespannten Zuhörens offenbar
sicher, längst wieder Paul zugewandt. Sie sagt mit ihrer tiefsten Stimme: »Du
hast einen Halbbruder.«
Fast hätte ich aufgelacht. Es
klang wie in einem schlechten Ganovenfilm. Er hat einen Halbbruder,
Gamaschen-Joe! Einen was? Es klingt auch nicht wie etwas, das vollkommen den
Tatsachen entspricht. Eher wie - eine Prophezeiung. Andererseits viel zu
konkret dafür und gerade deshalb so unglaubhaft. Bestenfalls noch wie eine
Diagnose von etwas zwar nicht Erfreulichem, aber im Grunde Harmlosem: Sie haben
Senk- und Spreizfüße.
»Was?«, fragt Paul.
Ella kneift die Lippen
zusammen. »Na ja - wie dein Bruder. Nur halb. Also - er hat einen anderen
Vater, logisch.« Logisch?
»Und - wer, ich mein, wer ist
der Vater?«
Das erscheint mir vollkommen
unlogisch. Dass er gerade diese Frage stellt. Offenbar geht das sogar
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