Zander, Judith
auch so. Auch sie glaubte nicht mehr an ein passables
Blatt. Aber offenbar an die Möglichkeit eines Bluffs. Sie kannte deinen Partner
nicht. Und doch hättest du mit keinem anderen spielen können. Es gibt so ein
Wort, du kanntest es nicht: satisfaktionsfähig. Das war keiner, du sowieso
nicht. Er auch nicht. Aber er war wenigstens größer als du. Es war gar kein
Spiel. Es war ein Duell. Am Ende war einer tot. Zuerst dachtest du, du wärst
es. Auch später noch verließ dich der Argwohn nie ganz. Es gab keine Zeugen.
Keine Sekundanten. Sogar er war ohne alle seine angetreten. Fast fühltest du
dich bestätigt in deiner Wahl. Fast glaubtest du, es hätte eine gegeben.
Deine Mutter versuchte, dir in
die Augen zu sehen, obschon das Licht längst aus war, wenn du das Haus
betratest, wenn du aus der Dunkelheit in die Dunkelheit kamst, an die deine
Augen ebenso gewöhnt waren wie ihre. Sie saß in der Küche und tat so, als hätte
sie nicht auf dich gewartet. Sie wusste, du würdest sie nicht fragen. Einmal
tatest du es: »Was sitzt du denn hier?«
»Ach«, sagte sie, als schnappe
sie nach Luft, »ich wollt noch nich ins Bett.«
»Ich auch nicht«, sagtest du.
Du glaubtest nicht, dass sie
sich Sorgen machte, dass sie befürchtete, dir könnte »etwas passieren« im
nächtlichen Dorfe Bresekow. An dir ging doch alles nur vorbei. Obwohl sie unruhiger
schien als sonst, regelrecht aufgekratzt manchmal. Als wittere sie etwas, als
nehme sie etwas anderes an dir wahr. Etwas, das sie in Aufregung versetzte wie
ein junges Mädchen, das sich allen möglichen bunten Hoffnungen hingibt. Das
schlaflos und sinnend im Dunkeln sitzt und nicht merkt, wie viel Zeit schon
vergangen ist.
Sie erschreckte dich jedesmal.
Du wusstest, sie würde dort sitzen, immer auf dem gleichen Platz, die Arme auf
dem runden Tisch. Trotzdem. Es war jedesmal, als risse der Spalt noch ein
bisschen weiter ein, du zucktest zusammen. Als versuchte auch sie noch, ihren
Kopf hindurchzuzwängen, und gewaltsamer als er. Er hatte den Spalt nur zufällig
entdeckt und sah ohne Neugier hindurch, sah gar nicht dich, sondern etwas, was
ihm gefiel, für das er die Ursache zu sein glaubte. Furcht. Du fühltest den kalten
Boden an deinem Rücken, versuchtest, ihn mit so wenigen Stellen wie möglich zu
berühren, Ringer fielen dir ein, das Wort >Schultersieg<. Sie baumelten
über dir, diese beiden Gesichter im Spalt, wie zwei Luftballons kurz vor dem
Platzen. Sie guckten sich an und konnten sich nicht mehr halten vor Lachen.
Ihre Lache fiel wie Konfetti auf dich. Du würdest für Jahre erkennbar sein als
ein Gast dieser geschmacklosen Feier, für die du erst gar nicht die Einladung
ausschlagen konntest, weil es keine gab. Du hattest nicht mal eine
Sicherheitsnadel parat. Aber glaubtest du, du könntest platzen lassen, was sich
da über dir aufgeblasen hatte, ohne dass es einen Knall gäbe, glaubtest du das
wirklich, an jenem Abend? Glaubtest du, du könntest einen Riss wieder
zusammenflicken durch deinen bloßen Willen? Glaubst du das immer noch?
Du bist froh, dass Michael und
Paul nicht da sind, noch nicht zurückkommen und das Licht anmachen, immer noch
wegbleiben, von dir. Und wo könnten sie weiter weg sein als auf diesem -
Dorffest, nicht wahr.
Wo hätte er weiter weg sein
können als dort, an diesem Abend, nachdem die Demonstrationen überstanden
waren, eine Art Faschingsumzug durch Schmalditz, so kam es dir stets vor, ein
verordnetes Verkleiden. Monströs, keineswegs eine Demonstration: wofür denn
oder wogegen. Ja, du warst für den Weltfrieden, wenn es das war, was sie hören
wollten, ja, du warst gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wer
nicht. Und, hat es etwas genutzt? Es stellte noch nicht mal eine Demonstration von etwas dar. Wovon denn, es gab
doch nichts. Nichts außer dem Vergehen von Tagen, dem Warten auf das Ende der
Woche, das Ende der Schulzeit, das Ende des Lebens, nach dem nichts mehr kam.
Dafür musste man nicht auf die Straße gehen. Aber man musste.
Und musste man denn auch in
den Dorfkrug gehen und gesellig sein und sich Schnäpse genannt
»Schlüpferstürmer« ausgeben lassen und sich übers Parkett schieben lassen und
sich anfassen lassen unter der blauen Bluse, draußen, im Dunkeln? Nein, das
musste man nicht. Aber du wolltest das sehen. Dass man das nicht musste, und
aber auch, dass man dafür nicht zu Hause bleiben musste, dass man sich sein
Alleinsein nicht wegnehmen lassen musste, indem man es umschmieden musste
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