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Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
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fandest dich in einem
Acht-Bett-Zimmer des Lehrlingswohnheims in Kießow wieder. Alle anderen Betten
waren schon belegt gewesen, dir war das untere neben der Tür geblieben, ein
Kissen, eine ausgemusterte NVA-Decke. Es war September, man musste noch nichts
sehen, wenn man nicht wollte. Die Hosen kriegtest du nicht mehr ganz zu, die
Druckknöpfe sprangen auf, sobald du dich hinsetztest, aber du hattest einen
Gürtel und einen weiten Pullover. Im Waschraum beugtest du dich tief über das
Becken, nahmst die hinterste Dusche und drehtest dich zur Wand. Keiner zeigte
ein gesteigertes Interesse an dir. Wie immer sprachst du wenig, man reagierte
fast erschrocken, wenn du einmal den Mund aufmachtest. Sie waren das nicht
gewohnt, diese lauten Mädchen. Manche sprachen sich mit Nachnamen an. Du warst
überzeugt, dass keine deinen kannte, du verwechseltest ihre. Nur bei Kathi
warst du dir sicher, dass sie so hieß, Kathi Breitsprecher, die über dir
schlief und alle ihre Anreden mit »Du, Ingrid« begann. Du hattest sie zuerst
für jünger gehalten als dich, wie ein paar andere, die nach der achten Klasse
genug gehabt hatten von der Schule oder umgekehrt, tatsächlich aber war sie ein
Jahr älter als du, einmal sitzengeblieben. Das war dir in diesem Jahr
unvorstellbar, dass jemand älter sein konnte als du. Du wusstest, du würdest es
ihr als Erste sagen, denn sagen musstest du es ja doch, besser als jemand
anders. Gleichzeitig befielen dich bei ihr die größten Bedenken, du fühltest
eine reale Angst, sie könnte anfangen zu weinen. Sie weinte oft, mitten in ihre
Sätze. Wenn du Kathi ansahst, wusstest du, dass man sie nur verletzen konnte,
ihre Haut schien dir beinahe durchsichtig. Keine Schale wie deine. Sie war viel
kleiner als du, auch runder, alles an ihr, ihre braunen Haare legten sich nach
jedem Waschen von allein in großzügige Locken, ihr Mund formte beständig an
einem kleinen o. Sie sprach auf ihre Umwelt ausschließlich mit Lachen oder
Weinen an, aber mit was von beidem, blieb schwer vorherzusagen. Ihr konntet
euch nicht entscheiden, was hassenswerter war: die leeren Stunden in dem nach
Grützwurst und Sägespänen riechenden Flachbau in Kießow oder die Landluft der
Praxiswochen, auf den Rübenfeldern, in den Kuhställen des Kreises Anklam. Ihr
träumtet von Eutern. Den Augen der Treckerfahrer. Beide meintet ihr, das könne
nicht ewig so gehen. Das verband euch. Aber Kathi war zuversichtlich.
    Du hättest noch vor Ende des
ersten Monats dort deinen Kopf mit Kathis sämtlichen familiären Verhältnissen
und Angelegenheiten ausstopfen können, so sicher versorgte sie dich täglich
mit immer neuem oder vielleicht auch immer gleichem Füllmaterial, du hörtest selten
zu. Das Loch in deinem Kopf wurde größer, du vergaßt die einfachsten Dinge. Du
gingst immer früher zu Bett. Einmal, als du dich auszogst, flog die Tür auf und
die anderen, die sonst erst hereinpolterten, wenn du schon so tatest, als ob du
schliefst, standen plötzlich um dich herum, und Elfi oder Barbara oder
Liebmann sagte: »Eh, sag ma, biste schwanger oder wat?«, und piekte mit dem
Zeigefinger in deinen Bauch, fast hättest du mitgelacht. Du hattest es
vergessen. Zu sagen. Aber das klang wie eine von den Ausreden, die wohl nur du
geduldet hättest. Du konntest dich nicht erinnern, wann jemand für dich eine
erfunden hätte. »Ja«, sagtest du. Sie empörten sich, sie übertrieben, sie
lachten noch ein bisschen in deine Ecke, aber es war nicht richtig lustig und
nur zwei oder drei Sprüche ließen sich anbringen. Du merktest ihre
Enttäuschung. Kathi sagte: »Du, Ingrid, wirklich?«, und fing an zu weinen.
    »Hör auf«, sagtest du. »So
schlimm ist das nun auch nicht.«
    »Aber Ingrid - ich freu mich
doch so für dich!«
    Du hattest Kathi unterschätzt.
Du begannst, alles zu überdenken. Weinen für Lachen zu nehmen, und umgekehrt.
Dir war jetzt manches Mal nach Lachen zumute.
    Als deine Mutter dich am
Wochenende lange mit einem Gesicht ansah, das sie ansonsten nur zu den Nachrichten
von Planerfüllung und - Übererfüllung aus dem Radio aufsetzte, und dann sagte:
»Ich hab mir das gedacht«, musstest du lachen. Sie sagte dir nicht, wie es
weitergehen solle. Das verstand sich wohl von selbst. Das andere zu deiner
Verwunderung nicht. »Und mit wem -«, sie räusperte sich, du erkanntest es als
keine ihrer Gesten wieder, »ich mein, und wer ist da nu außer dir für
verantwortlich?«
    »Keiner«, sagtest du sofort
und fast heiter, weil du nicht

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