Zander, Judith
musstest jetzt regelmäßig nach Anklam, du konntest dafür halbe
Vormittage herausschlagen. Manchmal gingst du danach in die B roilerbar , morgens um zehn, und
gönntest dir von deinem Lehrlingsgeld ein halbes Hähnchen. Die eingebildeten
Kellnerinnen kannten dich schon, aber du gabst viel Trinkgeld und sie dir
einen Platz am Fenster. Wahrscheinlich hielten sie dich für eine
Sitzengelassene, du sahst genauso aus. Komisch daran war nur, dass es dir wie
eine irrige Annahme vorkam, über die man halb beleidigt, halb amüsiert sein
konnte. Amused. Sagt man das so.
Wenn du zurückkehrtest von
diesen Untersuchungen, empfing Kathi dich stets mit der Frage: »Du Ingrid,
alles in Ordnung?« Du sahst sie wohl immer verständnislos an. Dir fiel die
Geschichte von Jona im Bauch des Fisches ein. Als ob ihm jemand die gleiche
Frage gestellt hätte.
Sie fing an, deinen Bauch zu
befühlen. Ihre Hände waren schön warm, sie lachte. »Merkst du schon was?« Du
wolltest darauf nicht antworten, und Kathi streichelte mitfühlend deine
Schulter. »Das kommt noch.« Du wolltest nicht wissen, was. Sie hatte einen
Freund, der sie jeden Freitag abholte und in jeder Hinsicht ein Magnet war. Er
klebte an Kathi wie sie an ihm, die übrigen Weiber an seinen Hacken. Er war
einen halben Meter größer als sie, er gefiel dir. Aber er lächelte die ganze
Zeit. Sie hatte dich ihm gleich bei seinem ersten Besuch vorgestellt: »Das ist
meine Freundin Ingrid.« Du hattest wieder das Gefühl, diese andere Ingrid sei gemeint.
Sie führte dich ihm jedesmal vor wie etwas, auf das sie Grund hatte stolz zu
sein. Jedesmal war dein Bauch gewachsen wie ein Verdienst. Du warst nett zu
ihm. Als Kathi eines freitagnachmittags fragte: »Darf Helmut auch mal
anfassen?«, sagtest du: »Ja, aber nicht mich.« Kathi brach fast sofort in
Tränen aus und entschuldigte sich drei Tage lang, oder. Vielleicht zog nur
Helmut seine Hand weg, das Lächeln nicht.
Du fuhrst nur noch jedes
zweite Wochenende nach Hause. So brauchtest du nur halb so oft den Mund
aufmachen, um »nein« zu sagen. Du sahst nicht ein, was so wichtig an dieser
Information sein könnte, es ging ihr doch nicht ums Geld. Auch bei genauerer
Betrachtung entdecktest du keinen Grund für ihre Hartnäckigkeit. Für deine
dachtest du dir einen aus: Ihr wart somit doch quitt, du und sie. Enthieltet
ihr euch nicht beide einen Vater vor? Genau. Schon das Wort >Vater<
erschien dir übertrieben, du kanntest niemanden, auf den es passte. Den
anderen schien es ähnlich zu gehen, du fandest dich in einem unerwarteten
Einverständnis mit ihnen darüber, dass Ursachen ungeklärt bleiben können. »So
was passiert.«
Peter sahst du überhaupt nicht
mehr. Vielleicht kam er an den anderen Wochenenden, vielleicht solltest du ihm
nicht unter die Augen kommen, so. Er hatte dich besorgt angesehen, als du ihn
einmal in der Stube vorgefunden hattest, wie er den Ofen mit neun, zehn, elf
Kohlen bestückte, allzu kalt war es noch nicht gewesen, er hatte leise
mitgezählt und dabei zu dir hochgeblickt. Diesen Ausdruck kanntest du gut an
ihm, er beunruhigte dich nicht, eher im Gegenteil. Aber etwas in seinen Augen
war geborgt. Von deiner, von seiner Mutter womöglich, der es allzu unbehaglich
geworden sein musste, etwas mehrere Wochen lang nur mit dir zu teilen. Und auf
dich war kein Verlass. Zumindest hatte er von dir nicht wissen wollen, wer. Er
wollte es nicht wissen.
Im Dezember fingen die anderen
an, zueinander ins Bett zu kriechen. Auch Kathi machte dir dieses Angebot.
Deine Eisbeine wurden nie warm. Hätte sie nicht so gebettelt, wärst du hochgestiegen
zu ihr. Von den anderen hörtest du: »Na, du bist ja schon zu zweit«, oder auch:
»nich ganz alleine«, dann kicherten einige. Nein, du warst beileibe nicht
verrückt. Du konntest dir das nicht vorstellen, das. Nachts wachtest du oft
auf, oder du konntest gleich nicht schlafen. Du hörtest den Zinkeimer voll
werden. Irene, so hieß sie doch, hatte »schneidend Wasser«. Sie hatten ihr den
Eimer erlaubt. Mit der Zeit benutzten ihn alle, außer Kathi und du. Ihr
begleitetet euch gegenseitig den langen, frostdurchwehten Gang zum Klo. Aber
lieber war dir, wenn du ihn alleine gehen konntest, wenn da nur deine eigenen
Schritte tappten, wenn da niemand war außer dir.
Niemand außer dir war im Dorf.
Sie hatten dich eine ganze Woche vor Weihnachten nach Hause geschickt mit dem
Hinweis, du hättest dich auch im neuen Jahr nicht zurück nach Kießow zu
begeben, sondern in deinem
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