Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
Vom Netzwerk:
eigenen Dorf zu bleiben und dich zu schonen und
vorzubereiten. Sie sagten auch, worauf, aber da hörtest du schon wieder nicht hin.
Die Bücher durftest du mitnehmen, Kathi versprach, dir alles Verpasste
vorbeizubringen. Du wartetest nicht auf sie. Du bewachtest das Thermometer. Als
es fünf Tage lang beständig unter null geblieben war, stündlich strenger alle
in ihre Häuser pferchte, gingst du ohne vorherige Prüfung los. Du hattest es
nicht vergessen. Es wurde dunkel, wie du es gewollt hattest, die Kirche war
lange aus, du hattest die Glocke gehört und dann nichts mehr. Peters
Schlittschuhe hattest du auf dem Boden gefunden, du stelltest fest, dass du die
Schrauben etwas lockern musstest, deine Füße waren inzwischen größer als seine
vierzehn-, fünfzehnjährigen. Du setztest dich auf das Schneepolster der
wackligen Bank am Teich, wie die jungen Mädchen. Erst dachtest du, es würde nicht
gehen, du konntest dich nicht weit genug hinunterbeugen, um die Schrauben festzuziehen,
deine Finger wurden klamm, obwohl du schwitztest. Du hievtest die Füße quer auf
die Knie, irgendwie schafftest du es. Es kam dir vor wie in der Schule, wenn im
Sportunterricht das Ausführen einer an sich leichten Übung überflüssigerweise
erschwert wurde, durch einen Medizinball zum Beispiel, wie eine Behinderung.
Vorsichtig stakstest du auf den unscharfen Teichrand zu, du hattest sofort
Gleichgewichtsprobleme, ein großer, unbeholfener Schritt hätte fast alles
beendet. Als Kind hattest du immer gedacht, es müsse >ungeholfen< heißen,
eine Art Partizip, und du hattest Peter nicht geglaubt, wenn er es dir vorgesagt
hatte, geargwöhnt, er spreche es absichtlich falsch aus. Der Eisteich trug dich
mühelos, es knackte nicht einmal, als wärst du gar nicht da oder sehr leicht.
In Schwung gebracht, schwankte dein Körper kaum noch, du setztest einen Fuß vor
den anderen und musstest nur aufpassen, nicht zu schnell zu werden, um die
Kurven zu kriegen, das sogenannte Übersetzen hattest du nie gelernt. Das Eis
war neu und unsichtbar, und morgen, wenn man die Kinder zusammen mit dem
Festdunst wieder aus den Stuben lüften würde, fänden sie sich verdutzt darüber,
wer ihnen ihr Eigentum, die Unberührtheit des Schnees weggenommen hatte. Ein
plumper Vogel, von dem als Einziges bekannt war, dass er nicht fliegen konnte.
    Es kam das Jahr
neunzehnhundertsiebzig. Es begann im Februar. Dann kam das Jahr
neunzehnhunderteinundsiebzig, und darauf muss das Jahr
neunzehnhundertzweiundsiebzig gefolgt sein, aber du weißt nicht, wann sie
anfingen. Vom Jahr neunzehnhundertdreiundsiebzig weißt du zumindest, wann es endete.
Es war recht kurz und schon an einem Februartag vorbei. Wahrscheinlich war das
alles eine einzige Zeit, ohne Monate, Jahreszeiten und Übergänge, eine
Anomalie. Man versuchte, dir etwas anderes weiszumachen, man maß ein Kind in
Zentimetern und Gramm und meinte, dir damit das Vergehen der Zeit bewiesen zu
haben, gerade so, als verginge sie für jeden gleich, gerade so, als hätte man
dich vermessen. Blödsinn.
    Seit einem Tag Anfang Februar
war etwas da, das beständig größer wurde, das von Anfang an viel zu groß
gewesen war für dich und dir unbekannte Schmerzen verursachte, ein Wackerstein,
der rumpelte und pumpelte, scheuerte und scheuerte. Du warst so wund die ganze
Zeit, du merktest es schon gar nicht mehr. Manchmal hieltest du dich deshalb
für schmerzfrei, aber es hatte doch nicht aufgehört, es hörte nicht auf, du
musstest davon ausgehen, dass es nicht mehr aufhören würde. Du musstest ihm
einen Namen geben, irgendeinen. Henry. Vielleicht hattest du ihn irgendwo
gelesen. Im Krankenhaus hatten sie auch wieder gefragt. Aber es kam wohl öfter
vor. Sie legten dir einen Säugling an die Brust. Woher solltest du wissen, dass
er zu dir gehörte. Er biss dich, du hättest nicht geglaubt, dass man ohne Zähne
so beißen konnte. Aber vieles war möglich. Bis zum Schluss hattest du nicht
geglaubt, dass du ein Kind zur Welt bringen würdest, dein Kind oder das von
Roland Möllrich. Etwas kam aus dir heraus, und auch das nicht einfach so, sie
mussten es herausziehen, es konnte alles Mögliche sein. Es tat weh, wie nur
etwas Fremdes weh tun kann, dein eigener Körper hätte dir niemals solche
Schmerzen verursacht. Du wolltest gar nicht wissen, was es war. Dein
>natürliches< Kind. Du wusstest, was das bedeutet. Du verlegtest dich
aufs Unnatürliche. Dein Körper war dein Verbündeter. Nach zwei Wochen ließ er
sich nicht länger

Weitere Kostenlose Bücher