Zander, Judith
zu überlegen brauchtest.
»Ingrid, hör auf. So dumm bin
ich auch wieder nicht, und du erst recht nicht.« Sie versuchte, wie eine Mutter
zu klingen. »Du sagst mir jetzt, wer der Vater dazu ist.«
Du wolltest sagen, du wusstest
es nicht. Du hättest es vergessen. Tja. Einer aus Anklam, ach was, aus Berlin,
aus dem Westen. Aus dem Jenseits, ha. Aber keine dieser Barrikaden erschien dir
unüberwindbar genug. Es war besser, von Anfang an bei einer Version zu bleiben,
der am leichtesten wiederholbaren, denn wer weiß, dieser Kopf.
»Nein«, sagtest du.
»Ingrid Hanske!«, sagte deine
Mutter. Sie zuckte mit den Schultern, hielt sich an der Stuhllehne fest und sah
angestrengt die Ritze zwischen Herd und Dielen an, als hoffte sie, doch noch
weiter hineinspähen zu können. »Wie willst du denn das alleine ... Du denkst
wohl, du brauchst überhaupt keinen, was? Du ...« Sie hörte plötzlich auf,
drehte sich um und ging raus. So könnte es gewesen sein. Vielleicht, dass sie
nicht mehr genau wusste, über wen sie sprach, Anna Hanske.
Kurz bevor du zum Bus
musstest, drückte sie dir ein Geschenk in die Hand. Ratlos, wohin damit,
stecktest du es in die Tasche zu deiner Wäsche. Im Wohnheim schliefst du sofort
ein. Am Montag hattest du Geburtstag. Am Montag musstest du ins Lehrerzimmer.
Du gingst gleich in den Sachen, in denen du aufgewacht warst. »Fräulein Hanske.
Sie sind uns eine Erklärung schuldig.«
»Nein«, sagtest du und
freutest dich, weil dir die Version schon in Fleisch und Blut übergegangen war.
Fleisch und Blut. Du dachtest einen Augenblick darüber nach. Die Lehrer
bemühten sich, einander ausreden zu lassen, so viel bekamst du mit. Es gelang
ihnen nicht. Während der eine noch blitzte, donnerte der andere schon hinein,
und heraus kam das Wortgewitter namens »Konsequenzen«. Wenn du dich weiterhin
ausschwiegest, würde es Konsequenzen geben. Du wusstest nicht, was du sagen
solltest. Zu so viel Naivität. Wenn du dich nicht ausschwiegst, würde es
trotzdem Konsequenzen geben. Das konnten sie doch sehen.
Nach dem Unterricht war dein
Kopf wieder leer. Du sahst die Tasche neben deinem Bett und du sahst sie nicht.
Es erschien dir völlig sinnlos, Wäsche in ein Fach in einem Schrank zu legen.
Wozu bloß? Wäsche zu wechseln. Waschen. Anziehen, ausziehen, anziehen. Du
hattest das Gefühl, die anderen zu imitieren. Wenn du hinter ihnen her in den Waschraum
trottetest, dich wie sie nicht mehr verstecktest. Wenn du den BH-Verschluss
löstest, mit dem Waschlappen über die eine, die andere Hälfte des Körpers
fuhrst, schien es sich um Bewegungen zu handeln, die du erst von ihnen gelernt
hattest. Du sagtest »gut Nacht«, wenn sie »gut Nacht« sagten.
Ein paar Tage später fiel dir
das kleine Päckchen wieder ein, mitten in Staatsbürgerkunde. Du stürztest
sofort aus dem Raum, vielleicht würde auch das Konsequenzen haben, aber
inzwischen besaßt du ein Gegengift: Privilegien. Die anderen traktierten dich
nicht mehr mit Blicken oder dem Gegenteil, sie flüsterten nicht mehr in deiner
Gegenwart. Draußen nahmen dir die Jungs das meiste ab, ein paar waren
freundlich. Du hattest lange nicht in den Spiegel gesehen, als du es einmal
tatest, erkanntest du dich kaum wieder: Das war nicht die, die du täglich mit
dir herumtrugst. Deine Haare leuchteten immer noch blond, deine Augen klarer
als die Jauchepfützen unterm Sommerhimmel. Ach, hör doch auf. Die hattest du da
noch gar nicht gesehen. Deinen Zimmergenossinnen wurdest du eine Art
Maskottchen.
Du fandest das Geschenk in
deiner Tasche. Niemand beklaute dich. Beim Auswickeln kam ein Paar blauer
Lederhandschuhe zum Vorschein, hundertmarkscheinblau. Du weintest in die
muffige Decke, drei Tage lang, oder bis du wieder aufs Klo musstest.
Du kamst den Aufforderungen
deiner Mutter nach, fast allen. Der Arzt aber sagte dir auch nichts Neues. Du
bekamst einen Ausweis, auf dem stand M utterpass , du stecktest ihn zu deinem
Personalausweis und dem FDJ-Ausweis, in allen fandest du deinen Name und dir
Zugeordnetes mit Schreibmaschinentypen gehämmert, du fragtest dich oft, wer
diese Person wohl sei, die sie dort so festzunageln versucht hatten, deren
Dokumente du aus einem unerfindlichen Grund mit dir herumtragen musstest, ob es
sie wohl wirklich gab, irgendwo. Manchmal hattest du Lust, sie kennenzulernen,
nur um ihr endlich diese Ausweise aushändigen zu können. Es nahm langsam
überhand. Aber am Ende war es eine Art Spielgeld, und du wolltest dich nicht
blamieren. Du
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