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Zander, Judith

Zander, Judith

Titel: Zander, Judith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: die wir heute saagten Dinnge
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Tarnkappe und ein fliegender
Teppich, denn an Peters Seite konntest du immer ebenso unsichtbar und auf und
davon sein wie er, wie der Junge, den es nicht geben durfte, hier, und den deshalb
niemand beachtete, wie Peter Malius aus Köslin, dann Koszalin, Hinterpommem.
Der Stotter-Peter. An ihn klammertest du dich in deinen Fluchtträumen als an
einen lebenden Beweis, dass es ein Jenseits gab, etwas, das hinausging über
deine Schulmilch, die Übelkeit und Ärger verursachende sozialistische
Errungenschaft, über deine Stöckchenspiele, die in verbissene, stumme Kämpfe
ausarteten, wenn die anderen schließlich die Stöckchen nach dir warfen, über
die verspannten Blicke deiner Mutter, sobald sie auf dich fielen, denn Peter
kam aus diesem Jenseits. Und du weißt noch, dass du lange Zeit glaubtest, dass
er in Wirklichkeit eine andere Sprache spreche, eine, die er hinter seinen
zerhackten Wörtern verbarg oder beim Sprechen als Blaupause mitlaufen ließ, und
du wolltest Worte dieser Sprache aus ihm herauskitzeln, du betteltest ihn an
und warst maßlos enttäuscht, als er ganz ernst zu dir sagte: »W-w-wirklich
nicht, Ingrid!«
    Du warst vielleicht auch nur
darauf gekommen, weil er sowieso viel mehr Wörter kannte als du, ständig las
er irgendein Buch, er hatte bald die ganze Dorfbibliothek durch, bis er dann
nicht mehr hingehen durfte, weil immer mehr Bücher abhanden gekommen waren,
und natürlich war er es gewesen, wer sonst. Wer sonst als Peter Hanske.
    Er hatte sie auch tatsächlich
alle, die vermissten Bücher, sie schliefen in den Staubflocken unter seinem
Bett, und manchmal verirrte sich nachts eine Maus zwischen sie und rieb ihr
Fell an den Leinenrücken, ein Geräusch, das du umstandslos wiedererkennen
würdest, dazu das zarte Getrippel ihrer rosigen Krallenfüßchen und Rufe, die
fast ein Zirpen waren. Sämtliche tote Mäuse, derer du habhaft werden konntest,
sammeltest du ein, du zogst sie vorsichtig aus den Fallen und legtest sie vor
dich hin, mitunter waren es vier oder fünf auf einmal. Du studiertest sie
genau, du konntest halbe Stunden reglos vor ihnen hocken, sie hatten fünf
Finger und Zehen wie du. Und obwohl deine Mutter nicht mit dir schimpfte, wenn
sie dich bei dieser Andacht überraschte, obwohl sie vielleicht sogar lächelte
oder nur sagte, »ach, Ingrid«, und: »Wasch dir nachher die Finger«, war dir ihr
Hinzutreten höchst unangenehm, es kam dir wie eine falsche Entschuldigung
vor.
    Du löstest alle von deiner
Mutter in eurem Zimmer aufgestellten Mäusefallen mit Bleistiften aus, die
dabei zu deinem Erschrecken oft durchbrachen, was dich jedesmal zu einer
Erklärung über einen leider schon wieder abhanden gekommenen, wahrscheinlich
in der Schule geklauten Bleistift zwang und einer Bitte um einen neuen. Deine
Mutter fragte dich etwas Unbeantwortbares, nämlich, wo du bloß deine
Schlusigkeit herhättest, und gab dir einen Bleistift, der noch gar keiner war
und erst mittels eines stumpfen Anspitzers mühsam mit einer Spitze versehen
werden musste, und der Anspitzer war nicht von ungefähr so stumpf, sondern von
den Stöckern, die du ebenfalls damit bearbeitetest, um Pfeile aus ihnen
herzustellen, denn Peter hatte dir einen Bogen versprochen, einen extra für
Linkshänder. In den folgenden Schuljahren drehtest du den eigentlich schon
unbrauchbaren Anspitzer aus alter Anhänglichkeit immer noch zwischen deinen
Fingern hin und her und fragtest dich, ob wohl der kleine Finger von Christa in
das Loch passen würde.
    Was aus den Büchern geworden
ist, weißt du nicht, jedenfalls hat die Bibliothek sie wohl nie zurückgekriegt,
und sie müssen die Existenz dieser zu gut gemeinten Dorfkultureinrichtung
überlebt haben, denn deren Verschwinden hast du noch mitbekommen, es war kurz
vor deinem Verschwinden und erschien dir fast wie ein Symbol: dafür, dass alles
Gutgemeinte irgendwann doch nicht mehr gegen die realen Verhältnisse ankann.
Und das kam dir richtig vor, traurig und triumphal.
    Als Peters Bücher schließlich
vermisst wurden, lagen sie bereits so lange unter seinem Bett, dass er sie
wirklich schon ganz als seine eigenen betrachtete, und das Verwunderliche, das
ihm das Ableugnen jeder Schuld auch so leicht und überzeugend machte, denn sein
Stottern lief dabei keineswegs ins Schlimme, Unverständliche, wie sonst, wenn
eine Aufregung ihn ergriff, das Verwunderliche und kaum noch mit dorfrechten
Dingen Zugehende war nur, dass ihr Fehlen überhaupt bemerkt worden war. Er
hatte es geschickt, um

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