Zarias Geheimnis
Kleber bestrich. »Ich könnte einen Klebezauber anwenden«, erklärte sie, »aber ich will dir ein gutes Vorbild sein und keine Radia vergeuden.« Sie öffnete das Buch und klebte den Magie-Nachweis auf die erste Seite.
Ich verschränkte die Finger, um nicht weiter nervös mit ihnen herumzuspielen. »Wie werden Mentoren ausgewählt?«
»Von der Weisheit des Hohen Rates«, erwiderte Lily zu schnell. »Wir besprechen jede neue Zuweisung. Und weil du violett bist, brauchten wir jemanden, der besonders befähigt ist, dich auszubilden.«
»Befähigt?«
Sie schätzte mich mit den Augen ab. »Ich diene dem Hohen Rat seit neunzig Jahren zum Guten des Landes.« Ich dachte an Beryls Worte. Sie gibt nur vor, ihr wäre Elfenland so wichtig. »Und«, fuhr sie fort, »ich bin blau. Magie-Stufe Einhundert. Du siehst also, ich kann dir viel beibringen.«
Magie-Stufe 100 bedeutete, dass Lily Morganit die gleichen Zauber wie ich ausführen konnte. Und sie kannte vermutlich tausend Zauber, von denen ich noch nie gehört hatte.
Sie reichte mir das Buch, als wäre es aus zerbrechlichem gläsernen Filigran. Als ich es an mich nahm, lag es schwer wie Blei in meinen Armen.
»Das ist einer der wichtigsten Tage deines Lebens – der Tag, an dem du dein Magie-Studium beginnst. Vergiss nicht, Zauberbücher und ihr Inhalt sind geheim. Achte gut auf dein Buch und sprich mit niemandem außer mir darüber. Es gehört dir, aber du wirst es hier lassen, bis du so weit bist, Magie ohne meine Aufsicht zu betreiben.«
»Aufsicht? Aber …«
»Zaria, ich weiß, dass du bereits zahlreiche Gesetze gebrochen hast.«
Natürlich wusste sie es. Sie hatte mich ja angezeigt.
»Der Hohe Rat kann das Risiko nicht eingehen, eine violette Elfe mit einer hohen Magie-Stufe Amok laufen zu lassen«, fuhr Lily fort. »Als deine Mentorin bin ich für dich verantwortlich. Daher wirst du ohne meine ausdrückliche Erlaubnis keinerlei Magie ausüben.« Sie reichte mir einen gespitzten Metallstift. »Dieser Stift ist dazu gedacht, die Seiten deines Zauberbuchs zu gravieren. Schreib als Erstes deinen Namen hinein.«
Ich rollte den merkwürdigen Stift zwischen den Fingern und fühlte mich auf einmal sehr müde. Ich legte den Stift weg und hob das Buch hoch, ohne es zu öffnen. »Warum ist es so schwer?«
»Es ist aus einer seltenen Legierung gemacht«, erwiderte sie. »Ich erkläre es dir später. Schreib deinen Namen in das Buch, Zaria. Wir haben viel zu tun.«
Ich öffnete das Buch. »Was werde ich als Erstes lernen?«
»Wie man die Magie kontrolliert, die man in den Zauberstab fließen lässt.«
Ich verriet ihr nicht, dass Beryl es mir bereits beigebracht hatte. Ich nahm den Stift wieder in die Hand und rieb mir die Augen, dann setzte ich mich etwas aufrechter hin und kämpfte gegen das Bedürfnis an, mich schlafen zu legen.
»Niemand hat mir gesagt, dass du eine langsame Schülerin bist«, bemerkte Lily. »Bitte schreib deinen Namen in das Buch, Zaria.«
Als ich den Stift auf das Blatt setzte, überkam mich das überwältigende Gefühl, dass ich einen Teil von mir für immer verlieren würde, wenn ich meinen Namen darauf schrieb.
Beryls leise Worte geisterten mir im Kopf herum. »Sie will dich unter ihre Kontrolle bringen.«
Ich ließ den Stift fallen und schob das Zauberbuch von meinem Schoß. Es fiel herunter und landete mit einem Knall auf dem Teppichboden, die Seiten ausgebreitet wie ein kaputter Fächer.
Lily riss ihre Perlmutt-Augen weit auf. »Was ist los mit dir?«
»Zu schwer.« Meine Zunge fühlte sich dick und taub an. Ich tastete im Geiste nach meiner Magie, aber sie schien in weite Ferne gerückt.
Ich musste hier raus.
In meinem Drang, so schnell wie möglich davonzukommen, warf ich mich ungeschickt auf Lilys Balkon. Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich aus einem klebrigen Netz befreien, das man über meine Flügel geworfen hatte, schaffte es jedoch abzuheben und entfernte mich trudelnd und schwindlig von den Morganit-Türmen.
Schwach, langsam und in einem Dunstschleier gefangen, flog ich davon und erwartete, jeden Augenblick von meiner schrecklichen Mentorin eingeholt zu werden. Dann versagten meine Flügel. Hilflos stürzte ich in die Tiefe.
Als ich die azurblauen Wedel der Bannerit-Büsche in einem Garten tief unter mir erblickte, steuerte ich auf sie zu, in der Hoffnung, sie würden meinen Fall abfangen. Um mich selbst drehend und purzelnd krachte ich in die Büsche und landete auf dem Boden. Nur noch halb bei Bewusstsein, blieb
Weitere Kostenlose Bücher