Zauber der Vergangenheit
bereits als Armenhaus.«
»Ein Armenhaus?«, fragte ich ungläubig.
»Ziehst du es vor, mit den Ratten in der Gosse zu übernachten?«
»Nein …, ich meine ja nur, die werden uns da, so wie wir aussehen, bestimmt nicht reinlassen«, gab ich zu bedenken.
»Das lass mal meine Sorge sein«, sagte Drew.
In der Straße, die Drew gemeint hatte, gab es zwar kein Armenhaus, dafür aber eine Art Zuflucht für Asylsuchende. Zuerst war es ein wenig schwierig gewesen, das richtige Haus zu finden, da es weder Straßenschilder noch Hausnummern gab und alles irgendwie ungewohnt anders aussah. Drew hatte den Tipp von einem Kutscher bekommen, den er nach dem genauen Standpunkt gefragt hatte. Der hatte uns aber auch nur eine vage Wegbeschreibung geben können. So was wie: »Nach der dritten Laterne rechts abbiegen, dann sieben Kutschlängen geradeaus, an der Kirche vorbei, dann links abbiegen und drei Kreuzungen weiter wieder rechts herum. Nach der zweiten Laterne wieder einmal links abbiegen und dort ist es dann das Haus auf der rechten Seite. Können Sie gar nicht verfehlen.«
Ich hatte es schon bei den Kutschlängen aufgegeben, mir den Weg zu merken. Aber Drew hatte offensichtlich ein gutes Gedächtnis. Ich zweifelte dennoch daran, dass wir jemals dorthin finden würden. Aber das Glück ist ja bekanntlich mit den Dummen. Schließlich standen wir doch davor. Es war ein altes Fachwerkhaus, das dreimal so hoch wie breit war. Es war ein bisschen windschief und lehnte sich an das Haus daneben. Aus dem ebenso krummen, wie baufälligen Schornstein stiegen vereinzelt ein paar Rauchwölkchen in den dunklen Nachthimmel auf. Die modrige Eingangstür wurde rundherum von dichtem Efeu überwuchert.
»Das müsste es sein«, sagte Drew und klopfte an die massive Eichentür.
Mir war nicht wohl dabei.
»Warum klingelst du nicht einfach? Das Klopfen hört doch keiner.«
»Violet, es gibt keine Klingel. Die wurde noch nicht erfunden.«
Oh, ja. Das hatte ich ganz vergessen. Wo es keine elektrischen Straßenlaternen gab, gab es natürlich auch keine elektrischen Klingeln. Ich kam mir wieder mal unheimlich doof vor.
Entgegen meiner Erwartung wurde uns die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Eine betagte Frau blickte uns mit ihren wasserblauen Augen fragend an. Tiefe Falten durchzogen ihr Gesicht. Ihr langes, graues Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem ordentlichen Dutt gebunden. Das Kleid, das sie trug, war schlicht und an vielen Stellen bereits ein wenig zerschlissen.
»Was kann ich für Euch tun, werter Herr?«, fragte sie zögerlich. Ihr Blick huschte hektisch zwischen Drew und mir hin und her.
»Wir suchen eine Unterkunft für die Nacht«, antwortete Drew.
»Dies ist ein Zufluchtsort für die in Not
Geratenen, keine Herberge.« Sie wollte die Tür wieder schließen, doch Drew hielt sie auf.
»Wir befinden uns in einer Notlage. In einer sehr großen sogar, wenn man es genau nimmt. Wir waren gezwungen aus unserem Elternhaus zu fliehen, da unser Vater meine Schwester schändlich misshandelt hat.« Er nahm meinen Arm und zeigte ihr zum Beweis meine Blutergüsse, die ich von Emilia hatte. Diese Idee war ebenso simpel wie genial. Ich musste nur mitspielen. Ich versuchte verängstigt zu gucken, was mir nicht allzu schwer fiel, da es so ziemlich meiner tatsächlichen Gefühlslage entsprach. Ihre Augen weiteten sich. Sie schien ihm zu glauben. »In Ordnung«, sagte sie kurz angebunden, nachdem sie einen Moment überlegt hatte. »Das Mädchen kann hier bleiben.«
»Aber was ist mit meinem Bruder?«, fragte ich verwirrt.
»Ich kann nur Ihnen Einlass gewähren, Miss.«
»Ist schon in Ordnung, Vi.« Drew legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
Ich drehte mich zu ihm um. »Was? Aber …«
»Du brauchst keine Angst zu haben.« Er legte mir die andere Hand unters Kinn und hob mein Gesicht vorsichtig an, so dass ich ihm in die Augen sehen musste. Ich spürte, wie seine Finger sanft über meine Wange strichen und eine warme Spur auf meiner Haut hinterließen. »Hier wird dir nichts geschehen. Du wirst hier bleiben und ich hole dich morgen früh wieder ab«, versicherte er mir. So, wie er mich aus seinen goldgelben Augen ansah, musste ich ihm einfach glauben.
»Und wo wirst du hingehen?« Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass die alte Frau es sich noch mal überlegen würde, wenn sie sah, wie sehr ich an ihm hing. Doch sie tat es nicht.
»Ich finde schon etwas. Mach dir keine Sorgen. Du wirst sehen, morgen finden wir eine Lösung.«
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