Zauber der Vergangenheit
entriegelte die Tür. Meine Mutter hatte sich bereits umgezogen. Sie trug ein wunderschönes, schilfgrünes Kleid mit einem weißen Spitzeneinsatz am Dekolleté. Es passte unheimlich gut zu ihren blassgrünen Augen. Leider hatte ich die nicht geerbt. Nur die dunklen Locken hatte ich von ihr. Ich hätte ihr generell gerne ein bisschen ähnlicher gesehen, denn meine Mutter war eine sehr hübsche Frau. Ich hingegen entsprach eher dem Durchschnitt. Ich bewunderte sie für ihre stets perfekt gefeilten Fingernägel. Meine waren kurz und brachen ständig ab, was aber natürlich auch daran liegen konnte, dass ich, wenn ich besonders nervös war, die Angewohnheit hatte, darauf herumzukauen.
»Schatz, du bist ja noch gar nicht umgezogen«, stellte sie überrascht fest.
»Mir geht's nicht so gut«, log ich, ließ mich aufs Bett zurückfallen und setzte einen leidenden Gesichtsausdruck auf. »Ich glaub, ich werde krank.«
Meine Mutter setzte sich zu mir und legte mir eine Hand auf die Stirn. Dann zog sie die rechte Augenbraue hoch, was bei ihr so viel bedeutete wie »erwischt«.
»Und worunter genau leidest du?«, fragte sie prüfend. Ich versuchte ihrem Blick standzuhalten, doch es gelang mir nicht.
»Unter Tante Batty«, antwortete ich schließlich wahrheitsgemäß.
Sie schmunzelte und ließ die Hände mit einem Seufzer in den Schoß sinken.
»Ach, Violet, ich weiß, dass Tante Clara manchmal ein bisschen schwierig ist, aber sie gehört eben auch zur Familie und der Abend ist sehr wichtig für sie.«
»Sie wird es bestimmt gar nicht merken, wenn ich fehle«, versuchte ich mich herauszureden. Ich sah meine Mutter flehentlich an.
»Es ist doch nur für ein Wochenende, Schatz«, versuchte sie mich zu überzeugen.
»Hast du das Kleid gesehen, das Tante Batty für mich ausgesucht hat?«, hielt ich zerknirscht dagegen und blickte sie vorwurfsvoll an.
»Nein, aber ich bin davon überzeugt, dass du ganz bestimmt sehr hübsch darin aussehen wirst.« Sie legte ihre Hand beruhigend auf meine.
»Mum, ich sehe darin aus wie eine riesige rosa Buttercremetorte«, entgegnete ich.
»Das hat man damals halt so getragen«, sagte sie und strich mir aufmunternd durchs Haar. »Ich muss jetzt leider wieder zurück zu deinem Vater. Er hatte eben leichte Schwierigkeiten mit seinem Outfit. Ich werde Tante Clara sagen, dass du dich nicht wohl fühlst. Aber bitte überleg es dir noch mal, ja? Ich würde mich wirklich freuen, wenn du doch noch kommst.«
Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn und schloss mit einem mitfühlenden Lächeln und einem Augenzwinkern die Tür hinter sich. Auf meine Mutter konnte ich mich eben doch immer verlassen.
Auf dem Flur setzte innerhalb der folgenden halben Stunde ein reges Treiben ein. Koffer rollten über den Dielenboden. Türen öffneten und schlossen sich. Ich hörte Schritte, die eilig den Gang auf und ab hasteten. Die meisten Gäste würden also hier im Haus übernachten. Im Nebenzimmer versuchte unterdessen gerade jemand das Mobiliar auseinanderzunehmen. Zumindest klang es so.
Um zehn nach sieben vernahm ich dann schließlich die letzten aufgeregten Stimmen, die sich in Richtung Eingangshalle entfernten. Dann war es wieder still. Ich drehte mich auf die Seite und versuchte noch eine Runde zu schlafen, doch ich fand keine Ruhe. Zu allem Überfluss meldete mein Magen mit einem lauten Knurren an, dass es mittlerweile höchste Zeit für etwas zu Essen war. Aber dafür müsste ich auf Tante Battys blöde Party gehen. Ich rang mit mir und ertappte mich tatsächlich dabei, wie ich für einen Augenblick zu den Keksen hinüberschielte. Wieder knurrte mein Magen verräterisch. Ich stand auf und nahm prüfend eines der Marmeladenmonster in die Hand. Vorsichtig klopfte ich mit der Fingerspitze auf den Rand des Teigs. Wie ich bereits befürchtet hatte, war er steinhart. Das war also keine Option. Mir blieb anscheinend wirklich nichts anderes übrig, als mich unters Volk zu mischen. Widerstrebend verließ ich mein Zimmer und machte mich auf den Weg, um mein Kleid zu holen. Den ganzen Weg lang überlegte ich, was es wohl auf einer Jahrhundertfeier zu Essen geben würde. Was hatte man denn vor circa dreihundert Jahren überhaupt gegessen? Ich dachte an die Romane, die ich gelesen hatte, und dass sie darin öfter zur Jagd gegangen waren. Bei dem Gedanken, dass es womöglich Kaninchen gab, wurde mir augenblicklich schlecht. Ich war zwar kein Vegetarier, aber die Vorstellung, dass ein armes kleines Häschen für so eine
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