Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
Allerdings war er so auffällig ausweichend gewesen, dass Gideon nicht sicher war, ob er es auf Judiths Anweisung hin sagte, ob er seine Herrin beschützen wollte, oder ob er einfach Zeit für sie schinden wollte, damit sie einen größeren Vorsprung bekam. Gideon hatte bei einem Schiffsagenten nachgefragt, wo man ihm sagte, dass heute kein Schiff nach Frankreich auslief. Anschließend war er erst bei Lady Dinsmore und dann bei Lord Thorncroft gewesen. Lady Dinsmore wusste nichts von Judiths Plänen, ebenso wenig wie Lord Throncroft, der aber geradezu ärgerlich amüsiert reagierte, als er sah, wie aufgebracht Gideon war.
Egal. Gideon stürzte den Brandy herunter. Wenn er sie heute nicht fand, würde er sie eben morgen finden – oder übermorgen. Und wenn er sämtliche Pariser Straßen durchkämmen, den Dschungel Südamerikas absuchen musste, ja, in die Hölle selbst würde er reisen...
»Komme ich ungelegen?«, erklang Judiths Stimme hinter ihm.
Für einen Moment blieb sein Herz stehen. Er drehte sich um und starrte sie an. »Was machst du hier?«
»Ich...« Sie sah ihn hilflos an. »Ich bin nicht ganz sicher.«
Sie war hier, und nur das allein zählte. Trotzdem... »Bist du gekommen, um Lebwohl zu sagen?«
Nur zögernd antwortete sie. »Nein.«
»Du willst losziehen, um Orchideen zu suchen, ohne vorher Lebwohl zu sagen?«, fragte er verwundert.
»Nein. Ja. Das heißt, ich weiß noch nicht genau, was ich mache oder wohin ich gehe«, antwortete sie unsicher und holte tief Luft. »Ich fand, du solltest ein paar Dinge wissen, bevor ich gehe.«
»Aha?« Er lehnte sich an seinen Schreibtisch und betrachtete sie. »Im Interesse der Ehrlichkeit?«
»Wenn du so willst.« Judith schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Wie du weißt, habe ich lange Zeit gedacht, ich wäre nicht für etwas Dauerhaftes bestimmt... für die Ehe. Mein Mann...«
»Er hat dich verletzt, ich weiß«, sagte Gideon leise. »Wie kannst du glauben, dass ich dir jemals wehtun würde?«
Sie riss die Augen auf. »Tue ich nicht. Nein, das habe ich nie geglaubt. Meine... meine Furcht war eher, dass ich dir wehtun könnte.«
»Erzähl weiter.«
»Der Tod meines Ehemannes war kein Unfall«, sagte sie und blickte Gideon fest in die Augen. »Er nahm sich das Leben.«
»Judith!« Damit hatte er nicht gerechnet. Er richtete sich auf und machte einen Schritt auf sie zu.
»Nein, bitte.« Sie hob eine Hand, um ihn auf Abstand zu halten. »Lass mich ausreden. Du musst es wissen.«
»Na schön.«
»In der Nacht, als er starb, hatte er vor Eifersucht getobt. Nicht dass er je einen Grund gehabt hätte, er bildete sich lediglich ein, ich würde ihn hintergehen. Jedenfalls schlug er mich. Er zwang mich auf die Knie und brach mir den Finger. Dann...« Ihre Stimme versagte für einen Moment. »Ich habe bis heute niemandem davon erzählt, und ich wollte es auch nie. Aber da wusste ich auch nicht...«
Am liebsten hätte er sie in die Armen genommen, sie getröstet und ihr versichert, dass niemand ihr je wieder wehtun würde. »Hinterher schloss ich mich in meinen Zimmern ein. Er hämmerte an die Tür. Ich hatte Angst und, was noch schlimmer war, ich war wütend. Er flehte mich an, ihm die Tür zu öffnen, doch ich tat es nicht. Er bat mich um Vergebung, aber ich verweigerte sie ihm.«
»Was vollkommen richtig war«, flüsterte Gideon. Bei dem, was dieser Mann, den sie liebte, ihr angetan hatte, überkam ihn eine unbändige Wut.
»Kurze Zeit später, hat er...« Sie brach ab, als wäre es zu schmerzlich für sie, die Worte auszusprechen. »Hat er sich vom Dach gestürzt.«
Bleiern hallten ihre entsetzlichen Worte durch den Raum.
»Und ich gab mir die Schuld«, fuhr sie ruhig und sachlich fort. »Bis heute.«
»Judith«, sagte er voller Mitgefühl.
»Heute erfuhr ich, dass mein Mann sich das Leben nahm, weil er dachte, er würde mehr und mehr so wie sein Vater, brutal und grausam.« Sie atmete langsam aus. »Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nichts über seinen Vater und auch nichts über die Dämonen, die Lucian plagten. Und selbst wenn ich davon gewusst hätte, seine Schwester glaubt, es hätte nichts geändert.«
Er runzelte die Stirn. »Sie wusste es? Sie hat es all die Jahre gewusst und dir nichts gesagt?«
»Alexandra kämpft mit ihren eigenen Dämonen und einer großen Verbitterung.«
»Dennoch...«
»Zehn Jahre lang dachte ich, es wäre alles meine Schuld«, sagte sie mit bebender Stimme. »Ich dachte, ich wäre eine furchtbare
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