Zauber der Versuchung: Roman (German Edition)
verrückt. Das warst du nie.«
»Nein«, sagte Alexandra bedächtig. »Das bin nicht.«
»Lucian war nicht verrückt«, fügte Judith eilig hinzu.
Alexandra atmete sehr langsam aus. »Noch nicht.«
Eine Stimme in Judiths Hinterkopf ermahnte sie, vorsichtig zu sein. Sie war nicht sicher, ob sie hören wollte, was ihre Schwägerin zu sagen hatte. Andererseits war es überfällig. »Was meinst du?«
Alexandra stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und ging zum Fenster, von dem aus man auf die Terrasse blickte. »Hat er dir gegenüber je über unsere Eltern gesprochen?«
»Soweit ich mich erinnere, nein.« In Wahrheit hatte sie von Lady Radbury heute mehr erfahren als jemals von Lucian. »Ich dachte mir das eine oder andere über euren Vater, aufgrund der Bestimmungen in seinem Testament, aber Lucian redete weder über ihn noch über eure Mutter.«
»Unsere Mutter starb, als wir noch sehr jung waren. Keiner von uns erinnerte sich besonders gut an sie«, erklärte Alexandra und sah weiter aus dem Fenster. »Was für ein Mensch war dein Vater?«
»Mein Vater?« Die Frage kam Judith merkwürdig vor. Sie überlegte einen Moment. »Er war ein guter Mensch, glaube ich. Ein wenig reserviert, in seiner Art, zumindest in Bezug auf Gunstbezeugungen, aber ich wusste immer, dass er mich liebte. Und er wird nie aufhören, mir zu fehlen.« Sie lächelte sanft, als sie an den großen blonden Mann mit dem ernsten Gesicht und den lächelnden Augen dachte. »Ich weiß, er war enttäuscht, dass ich sein einziges Kind war und dass er eine Tochter anstelle von Söhnen hatte, aber er vermittelte mir nie das Gefühl, dass es meine Schuld wäre.«
»Allein dafür könnte ich dich hassen«, murmelte Alexandra. Schweigend starrte sie aus dem Fenster, bis sie schließlich sagte: »Ich werde dich nicht mit Geschichten von meinem Vater langweilen. Belassen wir es dabei, dass er weder Lucian noch mir fehlte. Er war kein... kein angenehmer Mensch. Seine Frau und seine Kinder galten ihm als sein Eigentum, nicht als seine Familie.«
»Ich verstehe.«
Alexandra schnaubte verächtlich. »Nein, tust du nicht. Du kannst es gar nicht verstehen. Er war gewalttätig und brutal, ein bösartiger Mann...« Sie schüttelte den Kopf. »Schon verrückt, aber wenn man mit so einem Mann aufwächst, denkt man, alle sind wie er. Irgendwie haben Lucian und ich, ja, ich auch, durch dich erst erkannt, dass es nicht stimmt.«
Judith hätte von Alexandras Geständnis überrascht sein müssen, aber selbst vor Lady Radburys Enthüllungen hatte Judith bereits den Verdacht gehabt, dass Lucians Vater kein freundlicher oder liebevoller Mann gewesen war. Schon das düstere, strenge Haus verriet, dass es hier wenig Fröhlichkeit gegeben hatte.
»Er hielt dich für seine Rettung.«
Als Judith einen stummen Schrei ausstieß, drehte Alexandra sich zu ihr um. »Nun guck nicht so erschrocken. Er irrte sich. Du warst viel zu jung und vor allem viel zu naiv, um irgendjemandes Rettung zu sein. Ich wusste es von Anfang an, und ich glaube, er auch. Trotzdem hoffte er.« Sie wandte sich wieder zum Fenster. »Es tut mir leid, Judith«, sagte sie leise. »All die Jahre habe ich dafür gesorgt, dass du dir die Schuld an Lucians Tod gabst. Ich tat alles, damit du glaubtest, dein Verhalten an jenem Abend hätte ihn in den Tod getrieben.«
Judith zitterte am ganzen Leibe. »Wenn ich nicht so...«
»Du hattest nichts damit zu tun«, fiel Alexandra ihr ins Wort. »Glaubst du an Schicksal? An Vorbestimmung?«
Judith wollte bejahen, schüttelte dann aber den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Ich mir schon. Lucian fürchtete stets, es wäre ihm vorbestimmt, genau wie unser Vater zu werden. Er schwor, dass er es nicht geschehen lassen würde. An dem Abend, als er starb...«
Judith stand auf und ging zu Alexandra. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Schwägerin auf jene Stelle auf der Terrasse blickte, wo man ihren toten Bruder gefunden hatte.
»Nachdem er dich verletzte. Nachdem du dich weigertest, ihn in dein Zimmer zu lassen...«
»Ich hätte es nicht...«
»Nein!«, widersprach Alexandra energisch. »Nur eine Lebensmüde hätte ihn hereingelassen. Und du konntest nicht wissen, was als Nächstes passieren würde.«
Judith verspürte ein unangenehmes Brennen im Hals. »Es war mein Fehler.«
»Wenn irgendjemand schuld war, dann ich. Und er. Wir beide haben gesehen, wie er immer schneller in Wut geriet, wie er zusehends gewalttätiger wurde, und wir unternahmen nichts.
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