Zauber einer Winternacht
»Manche Versprechen sind nicht zu halten.«
»Ja, das ist wahr«, erwiderte sie leise und schwieg von da an.
Gabriel arbeitete fast eine Stunde lang, ununterbrochen zwischen ihr und der Leinwand hin und her schauend, das Gezeichnete immer wieder verbessernd, bis es ihm perfekt erschien. Sie gab ihm genau die Stimmung, die er wollte. Nachdenklich, geduldig, sinnlich. Schon jetzt, vor dem ersten Pinselstrich, wusste er, dass das Bild eins seiner besten werden würde. Vielleicht sogar das beste. Und er wusste, dass er sie auch in anderen Stimmungen malen wollte.
Aber das lag in der Zukunft. Heute kam es darauf an, ihre Art, ihren Stil, ihre Ausstrahlung einzufangen. Schwarz auf weiß, mit wenigen Grauschattierungen. Morgen würde er die Zwischenräume ausfüllen, die Farbe hinzufügen, die Feinheiten herausarbeiten. Wenn er damit fertig war, würde er ihr ganzes Wesen auf die Leinwand gebannt haben und sie besser kennen, als es je ein Mensch getan hatte oder jemals tun würde.
»Darf ich sehen, wie es Gestalt annimmt?«
»Was?«
»Das Bild.« Laura bewegte den Kopf nicht, als sie den Blick vom Fenster weg auf ihn richtete. »Ich weiß, dass Künstler sehr eigenwillig sind, wenn es um ihre unvollendeten Werke geht.«
»Ich bin nicht eigensinnig.« Er hob den Blick, als wollte er ihren Widerspruch herausfordern.
»Also darf ich es sehen?«
»Ist mir egal. Hauptsache Ihnen ist klar, dass ich nichts daran ändern werde, nur weil es Ihnen nicht gefällt.«
Diesmal war das Lachen nicht zu unterdrücken. Es klang befreiter, herzhafter als zuvor. Seine Finger packten den Bleistift fester. »Sie meinen, wenn ich etwas entdecke, das meine Eitelkeit kränkt? Keine Angst, ich bin nicht eitel.«
»Alle schönen Frauen sind eitel. Sie haben das Recht dazu.«
»Die Menschen sind nur dann eitel, wenn ihr Aussehen für sie wichtig ist.«
Das brachte ihn zum Lachen, aber sein Lachen fiel zynisch aus. Er legte den Bleistift hin. »Und Ihr Aussehen ist Ihnen nicht wichtig?«
»Schließlich habe ich nichts getan, um es mir zu verdienen. Eine Fügung des Schicksals. Ein glücklicher Zufall. Wenn ich schrecklich schlau oder talentiert wäre, würde ich mich wahrscheinlich über mein Aussehen ärgern, weil die Leute nur daran interessiert wären.« Sie zuckte mit den Schultern und nahm dann mühelos wieder die alte Position ein. »Aber da ich keins von beidem bin, habe ich mich damit abgefunden, dass mein Aussehen … ich weiß nicht, eine Eigenschaft ist, die für manches andere, das fehlt, entschädigt.«
»Wogegen würden Sie Ihre Schönheit denn eintauschen?«
»Gegen alle möglichen Dinge. Aber andererseits bedeutet ein Tausch ja nicht, dass man sich die neue Eigenschaft ehrlich verdient hat. In dem Fall zählt es irgendwie nicht richtig. Würden Sie mir etwas sagen?«
»Kommt darauf an.« Er zog einen Lappen aus der Gesäßtasche und wischte sich die Hände daran ab.
»Worauf bilden Sie sich mehr ein? Auf Ihr Aussehen oder auf Ihre Arbeit?«
Er warf den Lappen beiseite. Wie konnte sie nur so traurig, so ernst aussehen und ihn trotzdem zum Lachen bringen? »Mich hat noch niemand beschuldigt, gut auszusehen, also besteht da keinerlei Konkurrenz.« Er machte sich daran, die Staffelei herumzurücken. Als sie aufstehen wollte, machte er eine abwehrende Handbewegung. »Nein, entspannen Sie sich. Betrachten Sie es von dort, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«
Laura lehnte sich zurück und studierte die Zeichnung. Sie war weniger detailliert als viele seiner anderen. Ihr Gesicht und Torso, mit der rechten Hand locker unterhalb der linken Schulter ruhend. Aus irgendeinem Grund kam ihr die Pose schützend vor, nicht abwehrend, aber wachsam.
Was das Hemd betraf, so hatte er recht gehabt. Es ließ sie tatsächlich fraulicher erscheinen, als jede Menge Spitzen oder Seide es hätten tun können. Ihr Haar fiel lang und lose, in schweren, ungeordneten Locken, die im Widerspruch zur strengen Körperhaltung standen. Sie war überrascht, was er aus ihrem Gesicht gemacht hatte.
»Ich bin nicht so traurig, wie Sie mich aussehen lassen.«
»Ich habe Sie gewarnt. Erwarten Sie nicht, dass ich etwas ändere.«
»Es steht Ihnen frei, so zu malen, wie es Ihnen gefällt. Ich meine lediglich, dass Sie mich nicht richtig getroffen haben.«
Ihr leicht beleidigter Tonfall amüsierte ihn. Er drehte die Staffelei wieder zu sich herum, gönnte seinem Werk jedoch keinen einzigen Blick. »Da bin ich anderer Ansicht.«
»Ich wirke doch wohl
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