Zauber einer Winternacht
kaum so tragisch.«
»Tragisch?« Er wippte auf den Absätzen vor und zurück, während er sie musterte. »Die Frau auf dem Bild ist alles andere als tragisch. Tapfer, das ist das richtige Wort.«
Sie stand etwas mühsam auf. »Tapfer bin ich ebenfalls nicht, aber schließlich ist es Ihr Bild.«
»Darin sind wir uns einig.«
»Gabriel!«
Ihr gestreckter Arm schoss hoch. Ihr eindringlicher Ton ließ ihn zu ihr hinübereilen. Besorgt ergriff er ihre Hand. »Was ist los?«
»Schauen Sie, dort draußen.« Sie wies mit dem freien Arm durchs Fenster. Keine zwei Meter von der Hütte entfernt stand ein einzelner Rehbock. Die Läufe tief im Schnee, hob er witternd den Kopf. Ohne jede Spur von Angst, fast arrogant, starrte er durch die Scheibe ins Innere der Hütte.
»Er ist wundervoll. Ich habe noch nie einen so gewaltigen Bock gesehen, schon gar nicht aus einer so geringen Entfernung.«
Es fiel ihm leicht, ihre Begeisterung zu teilen. Ein Reh, ein Fuchs, ein über ihm kreisender Habicht, das waren die Dinge, die mitgeholfen hatten, die Trauer zu überwinden.
»Vor einigen Wochen bin ich zu einem Bach gewandert, der eine Meile südlich von hier liegt. Auf dem Weg bin ich einem kompletten Rudel begegnet. Der Wind wehte in meine Richtung, und ich schaffte drei Skizzen, bevor die Ricke mich bemerkte.«
»Er wirkt so majestätisch. Die ganze Gegend gehört ihm, und er weiß es. Vermutlich blickt er deshalb so selbstsicher drein.« Sie lachte leise und presste die Hand gegen das vereiste Glas. »Es ist, als ob wir zur Schau gestellt werden und er einmal kurz zu einem Besuch im Zoo vorbeigekommen ist.«
Der Bock schnupperte an der Schneedecke, als suche er das darunter verborgene Gras. Vielleicht witterte er auch ein anderes Tier. Um ihn herum tropften das tauende Eis und der schmelzende Schnee von den Bäumen.
Urplötzlich hob er den Kopf, und sein Geweih schien durch die klare Luft zu sausen. Mit weiten Sprüngen raste er über die weiße Lichtung und verschwand im Wald.
Lachend drehte Laura sich um, und schon war der einzigartige Anblick vergessen.
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie nah sie und Gabriel einander gekommen waren. Er auch nicht. Ihre Hände berührten einander noch. Von draußen strömte das Sonnenlicht herein, das bereits seine Kraft verlor, während der Nachmittag in den Abend überging. Und in der Hütte war es wie in dem Wald, der sie zum Teil umgab, vollkommen still.
Seine Finger glitten über ihre Wangen. Er hatte nicht gewusst, dass er es tun wollte, aber jetzt wurde ihm klar, wie sehr er es brauchte. Sie zuckte nicht zurück. Vielleicht hätte er sich damit abgefunden, wenn sie es getan hätte. Aber sie tat es nicht.
Er war nervös. Und sie auch, das fühlte er an ihrer Hand, die er noch immer hielt. Wie sollte er dem widerstehen, was sein gesunder Menschenverstand ihm strikt verbot?
Aber ihre Haut fühlte sich warm an. Lebendig. Nicht ein Porträt, sondern eine Frau. Was auch immer in ihrem Leben geschehen war, was auch immer sie zu der Frau gemacht hatte, die sie jetzt war, es gehörte der Vergangenheit an. Dies war die Gegenwart. In ihren leicht geweiteten Augen las er mehr als nur einen Anflug von Angst. Sie rührte sich nicht. Sie wartete.
Er verfluchte sich innerlich, als er den Kopf senkte.
Es war Wahnsinn, ihm das zu gestatten. Es war mehr als Wahnsinn, es überhaupt zu wollen. Noch bevor sie seine Lippen auf ihren spürte, merkte sie, wie sie ihm nachgab. Und gleichzeitig wappnete sie sich gegen das, was kommen mochte, obwohl sie nicht wusste, was es sein würde.
Der erste. Das war Lauras einziger Gedanke, als Gabriel sie küsste. Nicht nur der erste Kuss von ihm, sondern der erste überhaupt. Niemand hatte sie je so geküsst. Sie kannte die Leidenschaft, jenes hastige, fast schmerzhafte Verlangen, das ebenso ungestüm wie kurzlebig war. Sie kannte die Anforderungen, die Männer stellten, und konnte einige davon erfüllen, andere nicht. Sie kannte das jähe Verlangen, das ein Mann für eine Frau empfinden konnte. Was sie nicht kannte, was sie sich nie hatte vorstellen können, war diese behutsame, geradezu ehrfürchtige Art von Zärtlichkeit.
Und dennoch spürte sie, dass dahinter noch etwas war. Etwas, das in Ketten lag, nur mühsam gebändigt wurde. Und das zu spüren machte die Umarmung noch erregender, noch inniger als jede andere, die sie erlebt hatte. Seine Hände fuhren ihr durchs Haar, suchend, erkundend, während seine Lippen scheinbar endlos über ihr Gesicht wanderten.
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