Zauber einer Winternacht
unruhig, wie diejenige, die er gezeichnet hatte, als sie eines Nachmittags auf dem Sofa eingeschlafen war. Sie hatte so – wehrlos ausgesehen. Und so hatte sie sich auch gefühlt, als ihr klar geworden war, dass er sie ohne ihr Wissen beobachtet und zu Papier gebracht hatte.
Nicht dass sie sich vor ihm fürchtete. Laura stocherte halbherzig in der Mischung aus Wasser, Trockenmilch und Schokolade herum. Er war zu ihr freundlicher gewesen, als sie es unter den Umständen hätte erwarten dürfen. Und obwohl er ab und zu brüsk und gereizt sein konnte, war er der sanfteste Mann, den sie kannte.
Vielleicht fand er sie wirklich attraktiv. Ihr Gesicht hatte auf viele Männer anziehend gewirkt. Aber ob das nun bei ihm der Fall war oder nicht, er behandelte sie jedenfalls mit Respekt und Fürsorge.
Mit einem Schulterzucken goss sie die Flüssigkeit in einen Becher. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich über Gabriels Gefühle Gedanken zu machen. Sie schloss die Augen, stellte sich eine cremige heiße Schokolade vor und kippte den Inhalt des Bechers hinunter. In einigen Tagen würde sie sich wieder auf den Weg nach Denver machen.
Ein plötzlicher Schmerz ließ sie nach dem Rand der Arbeitsplatte greifen. Sie biss die Zähne zusammen und unterdrückte den Impuls, Gabriel zu rufen. Es war nichts, sagte sie sich, als der Schmerz nachließ. Vorsichtig ging sie ins Wohnzimmer. Gabriels Axt sauste nicht mehr auf das Holz herab. In der Stille hörte sie das andere Geräusch. Ein Motor? Panik stieg in ihr auf, und sie wehrte sich dagegen. Es konnte nicht sein, dass sie sie gefunden hatten. Die Vorstellung war absurd. Trotzdem ging sie rasch nach vorn und sah durchs Fenster.
Ein Schneemobil. Der Anblick des blitzenden, spielzeugartigen Gefährts hätte sie vielleicht amüsiert, wenn sie nicht den Fahrer gesehen hätte. Es war ein uniformierter Beamter der Staatspolizei. Laura machte sich auf alles gefasst und öffnete die Tür einen Spalt.
Gabriel war ins Schwitzen geraten. Er liebte es, an der frischen Luft zu sein und sich zu bewegen. Es brachte ihn zwar nicht auf andere Gedanken – die drehten sich immer nur um Laura –, aber wenigstens half es ihm, einen klaren Kopf zu bekommen.
Sie brauchte Hilfe. Und die würde er ihr verschaffen.
Einige Leute, die ihn kannten, hätten auf diese Entscheidung ziemlich erstaunt reagiert. Sicher, niemand hätte ihn der Gefühllosigkeit beschuldigt. Dazu waren seine Bilder viel zu einfühlsam und ausdrucksstark. Aber es gab nur wenige, die ihn für einen großherzigen Menschen hielten.
Michael war derjenige mit dem großen Herzen gewesen.
Gabriel war immer in sich selbst vertieft gewesen. Genauer gesagt in seine Kunst, angetrieben von dem Bedürfnis, das Leben in all seinen Nuancen wiederzugeben. Michael dagegen hatte das Leben einfach ausgekostet.
Jetzt war er fort. Gabriel ließ die Axt hinuntersausen. Sein Atem stieß pfeifend durch die Zähne und produzierte eine weiße Wolke in der dünnen Luft. Und Michaels Verschwinden hatte eine so große Lücke hinterlassen, dass Gabriel nicht sicher war, ob sie je gefüllt werden könnte.
Er hatte die Axt gerade wieder gehoben, und sie befand sich auf dem höchsten Punkt ihrer Bahn, als er das Motorengeräusch hörte. Er ließ die Axt auf den Block fallen, sodass sie sich mit der Schneide ins Holz grub. Splitter flogen davon und gesellten sich zu den anderen auf dem festgetrampelten Schnee. Mit einem raschen Blick zum Küchenfenster hinüber ging er um die Hütte herum, um den Besucher zu empfangen.
Die Entscheidung, die Frau in der Hütte zu beschützen, traf er nicht bewusst. Das brauchte er nicht. Es war die natürlichste Sache der Welt.
»Wie geht’s?« Der Polizist, dessen Wangen vom Wind und der Kälte gerötet waren, stellte den Motor ab und nickte Gabriel zu.
»Nicht schlecht.« Der junge Beamte musste etwa fünfundzwanzig und halb erfroren sein. »Wie ist die Straße?«
Der Uniformierte lachte auf und stieg vom Schneemobil. »Sagen wir mal, ich hoffe, Sie haben keine dringenden Verabredungen.«
»Nichts, das nicht warten könnte.«
»Ihr Glück.« Er streckte die behandschuhte Hand aus. »Scott Beecham.«
»Gabriel Bradley.«
»Ich habe schon gehört, dass jemand die alte McCampbell-Hütte gekauft hat.« Die Hände in die Hüften gestemmt, musterte er das Holzhaus. »Da haben Sie sich ja den idealen Winter für den Einzug ausgesucht. Wir sind dabei, den Höhenzug abzuklappern, falls jemand Vorräte braucht oder krank
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