Zauber-Schloss
weit in beide Richtungen erstreckte.
Dank Hüpfers Manipulation der Seile schwangen sie nun die Schlucht entlang und nicht mehr von einer Seite zur anderen. Die Harpyien wurden immer verzweifelter. »Laßt sie nicht den Boden erreichen!« krächzte die älteste und häßlichste der Vetteln. »Schnappt sie euch! Packt sie! Hebt sie hoch! Laßt das Mädchen fallen, wenn es sein muß, die brauchen wir nicht wirklich, aber rettet den jungen Bock!«
Dor schwang sein Schwert immer heftiger, um sie in Schach zu halten. Er mußte aufpassen, daß er nicht sein eigenes Seil dabei durchtrennte. Von hinten packte eine Kralle in seine Schulter, und riesige, stinkende Flügel flatterten um seinen Kopf. Millie schrie laut auf und strampelte immer heftiger, und ihr Haar sah aus wie ein Goldschauer, als es im Sonnenlicht aufleuchtete. Doch all das nützte nichts. Dor zielte mit seinem Schwert nach oben und stieß mit aller Wucht hinter seinen Rücken. Die Spitze traf auf irgend etwas auf, dann erscholl ein ohrenbetäubender Schrei, der einen Augenblick lang sogar Millies Gegelle übertönte, und die Kralle ließ ihn wieder los. Als er sein Schwert wieder hervorzog, sah er, daß die Spitze blutig war. Er wirbelte es wieder im Kreis herum und rasierte den vor ihnen flatternden Harpyien einige Federn ab. Diese ganze Gewalttätigkeit verursachte ihm Übelkeit, genau wie damals bei den Kobolden, aber er hörte trotzdem nicht auf.
Plötzlich fiel die Leine scharf hinab. Millie gab ein echt klassisches Iiiüiiihhh! von sich – doch der Fall dauerte nur kurz. Dors Beine stemmten sich gekonnt mit gespannten Muskeln und Sehnen gegen den Boden und fingen so den Aufprall ab. Er hatte Millie immer noch bei sich. Nun setzte er sie sanft auf dem Boden ab. Ihr Kleid und ihr Leibchen waren auseinandergegangen. Dor starrte kurz darauf, ohne zu begreifen, daß es zwei verschiedene Kleidungsstücke waren, und sie stopfte sie hastig wieder zusammen. Immerhin hatte sie aufgehört zu schreien.
Eine grünliche Gestalt senkte sich neben sie. »Das mit dem Sturz tut mir leid«, sagte Hüpfer, »aber die Harpyien haben mich angegriffen, da mußte ich verschwinden.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Dor. »Immerhin hast du uns aus den Harpyienhöhlen gebracht.«
Die Harpyien flatterten noch immer über ihnen umher, trauten sich jedoch nicht mehr, anzugreifen. Hüpfer hatte sich in einer Überraschungsaktion zwischen ihnen hinuntergelassen und sich mit seinem Zugseil in letzter Minute abgebremst. Diese Zugseile waren wirklich äußerst nützlich!
»Warum halten die Harpyien sich jetzt fern?«
Es war eine dumme Frage, die, wie viele andere, gar nicht wirklich so dumm war. Die Harpyien waren grob, häßlich, übelriechend – bis auf Helene –, aber besonders feige waren sie eigentlich nicht. Warum fürchteten sie sich also vor diesem steinigen Pfad?
»Eine von ihnen hat irgend etwas davon gesagt, daß hier unten der Feind lauern würde«, fiel es Dor wieder ein.
Millie schrie auf und zeigte nach vorn. Ein Haufen Kobolde kam die Schlucht entlang auf sie zugestürmt.
»Ich kann sie hinhalten«, sagte Dor und trat mit erhobenem Schwert vor.
Er wußte nicht, ob das ein Reflex seines Körpers oder seiner selbst war, aber es war eine nicht zu übersehende Tatsache, daß das Heldsein von seinem prächtigen Körper wesentlich begünstigt wurde. Er wußte, daß er mit den kleinen Kobolden fertigwerden konnte, deshalb konnte er es sich auch erlauben, tapfer zu sein. In seinem Zwölfjährigen-Körper hätte er durchaus gerechtfertigterweise gezögert – und wäre für einen Feigling gehalten worden.
»Ich führe uns hinaus«, schnatterte Hüpfer. »Vielleicht gibt es ja eine Steigung, die ihr mit Hilfe meiner Seile erklettern könnt. Ihr könnt mir den Rücken decken.«
Sie schritten in Richtung Osten, und Dor ging rückwärts, um die Kobolde abzuwehren, ohne den Anschluß an die anderen zu verlieren. Es war ganz offensichtlich, daß es in Richtung der Koboldhöhlen kein Entkommen gab.
»Es ist nur eine kleine Gruppe von ihnen«, kreischte eine der Harpyien. »Mit denen kommen wir schon zurecht! Löscht sie aus, Hennen!«
Plötzlich stürzten die Harpyien sich auf die Kobolde hinab. Sofort kam es zu einem Handgemenge, das von Kreischen, Geschrei, Ächzen und Wutgeheul begleitet wurde. Eine Wolke von Federn stob empor. Dor reckte den Hals, um erkennen zu können, was dort vor sich ging, aber der Staub wirbelte immer dichter und vernebelte ihm die Sicht.
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