Zauber-Schloss
Ich schlage vor, daß ihr dabei hin und her schaukelt, damit die Vögel euch nicht so leicht einfangen können.«
»Das kann ich nicht!« protestierte Millie. »Ich habe keine großen muskulösen Arme und solche Sachen!«
Dor blickte sie an. Teilweise hatte sie ja recht. Sie besaß wirklich kaum Armmuskeln, aber ›solche Sachen‹ hatte sie sehr wohl. »Ich werde dich wieder tragen.« Er zuckte warnend mit der Schwertspitze, um die Harpyien abzuschrecken.
»Du wirst beide Arme brauchen, um dich hinabzulassen«, warf Hüpfer ein. »Ich werde auf die andere Seite springen und ein Leitseil spannen. Auf diese Weise kannst du in der Mitte des Abgrunds Schwung nehmen, ohne an die Wände zu prallen. Aber dann hängst du auch mitten in der Luft.«
»Das läßt sich nicht ändern. Du mußt das Leitseil langsam lockern, damit wir hinunterhangeln können. Achte nur darauf, daß es richtig fest gespannt ist, wenn wir anfangen.«
»Ja, das geht, obwohl es ziemlich schwierig sein wird. Zu zweit wird euer Gewicht eine ganz schöne Spannung erzeugen.«
Dor stach nach einem hexenhaften Gesicht und sagte: »Millie kann dir zusehen und mir Bescheid sagen, wenn das Seil fertig ist. Wink du ihr dann von der anderen Seite zu.«
»Alles klar.« Hüpfer sprang zur Abgrundöffnung und verschwand. Die Harpyien stießen wilde Schreie aus. Sie waren noch nie einer derart großen Hüpfspinne begegnet und waren sowohl erstaunt als auch verängstigt.
»Er winkt!« rief Millie.
Das war aber schnell gegangen! Dor machte noch einen kurzen letzten Ausfall mit dem Schwert, wirbelte herum, packte Millie mit dem linken Arm und sprang über die Kante. Dann fiel ihm erst ein, daß er sein Schwert noch immer in der Rechten hielt. Er hatte vergessen, das Seil zu umklammern.
Sie stürzten dem Boden des Abgrunds entgegen. Millie kreischte und strampelte, und ihre Haarsträhnen peitschten Dor ins Gesicht.
Da spannte sich die Leine mit einem gewaltigen Ruck. Er brauchte sich gar nicht festzuhalten: Hüpfer hatte das Seil sowohl an seinem Körper wie auch an dem Leitseil befestigt. Wieder einmal hatte die Umsicht der reifen, erwachsenen Spinne ihm das Leben gerettet.
Sie schwangen hinunter und über den Abgrund hinweg und hüpften dabei leicht auf und ab. Die Harpyien kreischten aufgeregt und flatterten umher, unternahmen jedoch nichts, da sie sein zuckendes Schwert erblickten.
In einem weiten Bogen segelten sie über den Abgrund und wären beinahe gegen die andere Wand geprallt. Hüpfer hatte das Seil zwar so kurz gehalten, daß sie nicht zerschellen konnten, aber Dor mußte sich doch einen Augenblick lang mit den Füßen abstemmen. Dann schwangen sie wieder zurück. So ging es eine Weile weiter, in immer kürzer werdenden Bögen. Schließlich ließ die Bewegung nach, und sie blieben auf halber Höhe über dem Boden des Abgrunds hängen.
Die Harpyien begannen, sich zu organisieren, um Dor und Millie wieder mit ihren Krallen zu packen, wie sie es schon einmal getan hatten. Doch diesmal hatte Dor sein Schwert gezückt und kampfbereit, und das machte den entscheidenden Unterschied. Er wedelte drohend mit der Waffe, und die Harpyien hielten sich gerade außer Reichweite, fluchten schauerlich und verloren zahlreiche Federn, wenn sie mit der Schwertspitze doch einmal in Berührung kamen. Weil sie alle umherflatterten, fiel es den Vögeln schwer, ständig auf gleicher Höhe mit ihm zu bleiben, aber aufgeben wollten sie dennoch nicht.
Auf der anderen Seite des Abgrunds gab Hüpfer mehr Leine, auf eine Weise, wie nur er es konnte, und sie senkten sich langsam. Die Harpyien wurden immer wütender. »Laßt sie nicht unten ankommen!« schrie eine. »Dort lauert der Feind!«
Das empfand Dor nicht gerade als beruhigend. Was nützte es ihm, wenn er der einen Gefahr entronnen war, nur um in eine neue zu geraten? Na ja, darüber konnte er sich immer noch Gedanken machen, wenn es soweit war. Wenigstens hatten die Harpyien nicht daran gedacht, das Leitseil, das über den Abgrund führte, zu durchtrennen. Oder sie hatten diesen Plan verworfen. Sie wollten Dor nicht töten, denn dann war er endgültig nutzlos für sie geworden. Und Millie würde wahrscheinlich auch nicht mehr besonders gut schmecken, wenn man sie erst vom Boden des Abgrundes abkratzen mußte – aber genug davon!
Jetzt näherten sie sich dem Boden der Schlucht. Er war schmal, felsig und gewunden, voller Löcher und Grate. Es schien keinen Ausgang zu geben, aber das war nicht sicher, da sie sich
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