Zauberflötenrache: Meranas dritter Fall (German Edition)
Polizist. Für ihn musste das Wesentliche mit Augen und Ohren erfassbar
sein: Indizien, Spuren, Aussagen, Beweise. Das war sein Beruf.
»Du hast
diese Gabe, mit dem Herzen sehen, Oma. Das weiß ich.«
»Du kannst
das auch.«
Er schüttelte
den Kopf und griff wieder zur Tasse. Der Geruch von Melisse und Johanniskraut stieg
ihm in die Nase.
»Weißt du
noch, Oma, wie du mir erzählt hast, in den Hecken des Weißdorns zeigen sich manchmal
die Feen. Ich bin stundenlang davor gesessen. Es hat nichts genützt.«
Die alte
Frau schaute ihn ernst an, mit Liebe in den Augen.
»Ich bin
sicher, Martin, du hast sie auch gesehen. Du hast es nur vergessen.«
Er betrachtete
ihr Gesicht. Ihr Lächeln wärmte ihn. Die Zuneigung dieser alten Frau spannte sich
wie eine Decke um ihn. Das hatte sie schon immer getan. Ja, sie konnte wirklich
mit dem Herzen sehen. Und sie konnte manches mehr. Er überlegte kurz, dann fasste
er einen Entschluss. Er schob die Tasse zurück und stand auf. Er holte seine schmale
Aktentasche aus dem Vorzimmer und setzte sich wieder an den Tisch.
»Wenn es
dir nicht zu anstrengend ist, Oma, möchte ich, dass du dir ein paar Bilder anschaust.«
Er griff
in die Tasche und legte nach und nach der Großmutter die Fotos hin. Zuerst das Bild
von Anabella Todorova, dann jenes von Emina. Er gab ihr Zeit. Die Großmutter hatte
die Hände auf den Tisch gelegt und ließ die Gesichter der beiden Frauen auf sich
wirken. »Das ist die Sängerin und das bedauernswerte Mädchen, deren Bilder ich in
der Zeitung gesehen habe, Martin.«
»Ja, und
es ist meine Aufgabe, herausfinden, wie sie zu Tode gekommen sind. Du musst dir
gar nicht viel dabei denken. Ich möchte nur, dass du dir die Gesichter in aller
Ruhe anschaust.«
Er griff
erneut in die Tasche. Dann holte er die übrigen Fotos heraus und gruppierte sie
im Kreis um die beiden anderen: die Bilder von Waldemar Bernhold, Ferdinand Hebenbronn,
Maximilian Glocker, Carlotta Veitsch, Mogens Sigurdson. Er legte sogar die Fotos
von Robert Neuenberg, Fabienne Navarra und Flora Stullermann dazu. Dann schloss
er die Tasche und schob sie zur Seite. Die alte Frau saß ganz still da. Ihre Augen
blickten ruhig. Merana hatte den Eindruck, die Großmutter schaute gar nicht richtig
hin. Sie horchte mehr in sich hinein. Was würde wohl der Polizeipräsident jetzt
sagen, wenn er ihn hier sitzen sähe? Er würde ganz sicher an der geistigen Gesundheit
seines Kommissariatsleiters zweifeln und sich ernsthaft überlegen, für ihn schleunigst
eine andere Verwendung zu finden. Was konnte man von einem Chefermittler der Kriminalpolizei
schon erwarten, der glaubte, auf einen möglichen Hinweis zu stoßen, nur weil eine
alte Frau auf ein paar Fotos starrte.
Zwei Szenen
aus seiner Kindheit fielen ihm plötzlich ein. Sie waren so deutlich vor ihm, als
würden sie jetzt passieren. Die erste ereignete sich in den Osterferien, etwa ein
Jahr nach dem Tod seiner Mutter. Merana spielte im Garten, als die Großmutter aus
dem Haus kam. ›Komm mit, Martin, schnell. Die Hannah braucht uns.‹ Hannah war die
fünfjährige Tochter der Nachbarsleute. Sie rannten so schnell es ging zum Nachbarhof.
›Wo ist die Hannah?‹, rief die Großmutter, als sie die Nachbarin sah, die eben aus
der Scheune kam. ›Ich weiß es nicht, ich suche sie schon die ganze Zeit.‹ Die Großmutter
deutete zum Haus. ›Komm, Theres, wir müssen in den Keller.‹ Die beiden Frauen rannten
voraus und er selber hinterher. Sie stürmten die Treppe hinunter. Im Keller war
viel Gerümpel. Die Großmutter stürzte auf einen großen alten Kühlschrank zu, riss
die Türe auf, und die kleine Hannah kippte heraus. Sie war zwar bewusstlos, aber
noch am Leben. Nach ein paar Minuten an der frischen Luft kam sie wieder zu sich.
Der Nachbarin rannen die Tränen übers Gesicht. ›Kristina, das vergesse ich dir nie.‹
Und dann sagte die Großmutter etwas Seltsames. ›Du musst nicht mir danken, Theres.‹
Auf dem Heimweg fragte er die Großmutter, warum sie gewusst hatte, wo die kleine
Hannah war. ›Hast du sie schreien gehört, Oma?‹ Sie war stehen geblieben, hatte
ihn eine Zeit lang angeschaut. ›Ja, Martin. So wird es wohl sein.‹ Er selber hatte
nichts gehört. Wie auch? Der Nachbarhof lag Hunderte Meter entfernt. Der Kühlschrank
im Keller war dicht verschlossen.
Und an noch
eine Situation erinnerte er sich, während die Großmutter auf der anderen Seite des
Tisches einfach nur dasaß, mit den Bildern vor sich. Es musste im Sommer
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