Zauberflötenrache: Meranas dritter Fall (German Edition)
gewesen
sein, kurz vor Schulschluss. Fräulein Hildegard, die Klassenlehrerin, hatte die
Großmutter eingeladen, den Kindern etwas über die Heilkraft der Kräuter zu erzählen.
Merana war mächtig stolz gewesen, dass ausgerechnet seine Oma neben der Lehrerin
am Katheder saß und über Johanniskraut und Huflattich sprach. Plötzlich hielt die
Großmutter mitten im Reden inne und starrte vor sich hin. Die anderen Kinder brauchten
etwas länger, ehe sie mitbekamen, dass etwas nicht stimmte. Er selber hatte versucht,
dem Blick seiner Oma zu folgen. Die Großmutter schaute auf die letzte Bank. Dort
saß ganz alleine die Staller Marianne. Sie war nicht sehr beliebt in der Klasse,
ein kränkliches Mädchen, das sich schwer konzentrieren konnte. Marianne war nie
aufmerksam, wenn die Lehrerin sie etwas fragte. Ihre Leistungen waren ungenügend,
die Noten schlecht. Gleich darauf setzte die Großmutter ihren Bericht über Kamille,
Spitzwegerich und die anderen heilsamen Kräuter fort, als wäre nichts gewesen. Nach
der Stunde wandte sie sich an die Lehrerin, ob diese sich vorstellen könne, das
Mädchen aus der letzten Reihe weiter nach vor zu setzen. ›Und es wäre gut, wenn
sie nicht alleine sitzt. Geben Sie ihr doch die kleine Braunhaarige mit der Masche
am Pferdeschwanz dazu.‹ ›Ah, Sie meinen die Romana. Na, ich rede einmal mit ihr.‹
Die Lehrerin hielt große Stücke auf die Großmutter. Schon am nächsten Tag passierte
der Wechsel. Und von da an änderte sich das Verhalten der kleinen Staller Marianne.
Sie war plötzlich viel konzentrierter und arbeitete im Unterricht mit. Und sie war
nicht mehr so oft krank. Auch da war er neugierig gewesen, warum die Oma das Umsetzen
angeregt hatte. ›Es war einfach gut, dass sie von da hinten weg kommt. Und besonders
wichtig erscheint mir, dass ein so starkes und ausgeglichenes Mädchen wie die Romana
an ihrer Seite sitzt, da, wo vorher immer ein leerer Platz war.‹ ›Warum?‹, hatte
er gefragt. Die Großmutter hatte ihn lange und nachdenklich angeschaut. ›Ich glaube,
das willst du gar nicht wissen, Martin.‹ Doch, das wollte er unbedingt wissen. Er
bedrängte sie lange. ›Warum solle der Platz neben der Marianne nicht mehr leer bleiben,
Oma?‹ Sie gab ihm eine Antwort. ›Damit sich dort ihre tote Zwillingsschwester nicht
mehr hinsetzen kann.‹ Die Staller Marianne war ein Zwilling. Ihre Schwester war
bei der Geburt gestorben. Tagelang hatte er von der toten Zwillingsschwester geträumt.
Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte nicht gefragt.
Die Großmutter
auf der anderen Tischseite bewegte sich, ihre Hände zitterten leicht. »Das alles
ist sehr verwirrend, Martin. Ich glaube nicht, dass ich dir weiterhelfen kann.«
Sie stand langsam auf. Ihr rosiger Gesichtsausdruck von vorhin war verschwunden.
Die Wangen wirkten aschfahl. Er schalt sich selbst einen Narren. Das war einfach
zu viel für die alte Frau. Doch wenn sie schon so weit gekommen waren, dann wollte
er einen letzten Versuch starten.
»Streng
dich bitte nicht an, Oma. Sag mir einfach, was du empfindest.«
Sie legte
die Hände auf die Tischplatte und schaute wieder auf die Bilder.
»Ich habe
das Gefühl, hier fehlt etwas.«
»Was?«
Sie hob
den Kopf.
»Eine Mutter.«
Er verstand
nicht, was sie meinte.
»Was heißt
das?«
Sie zuckte
müde mit den schmalen Schultern. »Mir kommt es vor, es fehlt eine Mutter.«
Sie hob
die Hände und kam langsam um den Tisch auf ihn zu.
»Ich bin
sehr erschöpft, Martin.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Danke noch einmal für den
wunderbaren Abend. Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Mit schleppenden Schritten
machte sie sich auf den Weg ins Gästezimmer.
Es fehlt
eine Mutter.
Was hatte sie damit gemeint? Er
wusste, sie würde es nicht erklären können. Sie hatte einfach gesagt, was sie empfunden
hatte. Es fehlt eine Mutter.
Ihm fehlte
auch eine Mutter. Seit über 30 Jahren. Er war neun gewesen, als seine Mutter starb.
Sie war beim Bergsteigen abgestürzt. Er fühlte sich bis heute deswegen schuldig.
Sie hatte ihn kurz davor für ein Vergehen büßen lassen, das er nicht begangen hatte.
Er hatte sich gewünscht, dass auch sie für dieses falsche Verhalten bestraft würde.
Der helle Sarg, den das Loch im Boden des Friedhofes verschluckt hatte, tauchte
heute noch in seinen Träumen auf. Er sammelte die Fotos ein und steckte sie zurück
in die Tasche. Dann brachte er die leeren Tassen in die Küche. Auf dem Rückweg schaltete
er die Musikanlage ein und
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