Zauberhafte Versuchung
Schweigend betrachtete er Thatchers blutige, verstümmelte Leiche. »Bring Miss Worthington in den Nordturm. Im Moment habe ich keine Verwendung mehr für sie. Und dann mach hier sauber, während ich alles für unseren Aufbruch vorbereite.«
Fielding lehnte an der geschlossenen Tür und atmete tief durch. Er war ein verdammter Narr gewesen, und eigentlich müsste er jetzt zu Esme gehen und sich bei ihr entschuldigen. Ihr sagen, dass er das Tagebuch zurückgebracht hatte. Aber er wusste, dass er nichts dergleichen tun würde ... und dass es nur zu ihrem Besten war.
Solange sie einen Platz in seinem Leben einnahm, war sie in Gefahr. Der Rabe würde sie als Waffe gegen ihn benutzen, und er würde nicht immer in der Lage sein, sie zu beschützen.
Die Büchse der Pandora lag gut versteckt in dem doppelten Boden einer Reisetasche in seinem Zimmer. Fielding nahm sie heraus, um sie noch einmal ganz genau zu untersuchen. Die kunstvollen Gravuren von Göttern und Göttinnen waren so meisterhaft und detailgenau, dass es fast unmöglich schien, dass sie von Menschenhand geschaffen worden waren.
Alles, was sich seit der Entdeckung der Schatulle zugetragen hatte, schien auf etwas hinzuweisen, was unglaublich war. So etwas kam in Romanen und Märchen vor, aber nicht im heutigen England. Und dennoch hatte Fielding das ungute Gefühl, unter einer Art Bann zu stehen. Nur war es nicht Lust, was ihn befallen hatte, sondern die Liebe zu einer Frau, die er nicht haben konnte, weil sie etwas Besseres als ihn verdiente.
Und am Ende würde der Rabe vor nichts zurückschrecken, um die Schatulle an sich zu bringen. Aber nicht nur das - zu allem Übel stand auch die Mondfinsternis bevor. Fielding konnte nicht zulassen, dass Esme sich allein ihrem Schicksal stellte.
Er zog den Schlüssel aus seiner Hosentasche. Esme hatte nicht bemerkt, dass er den kleinen Schlüssel nach ihrem Streit gestern von ihrem Nachttisch genommen hatte. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Schatulle, und Fielding griff hinein.
Fast augenblicklich spürte er, wie sich das letzte Armband um sein Handgelenk schloss. Jetzt war er mit im Spiel, und der Rabe würde keines der Armbänder entfernen können, ohne dass Fielding dabei war. Und sollte es zum Schlimmsten kommen, würden er und Esme wenigstens zusammen dem Tod ins Auge schauen.
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22. Kapitel
A m nächsten Morgen klopfte es an Fieldings Zimmertür. Als er öffnete, stand er Thea gegenüber, die nervös ein Taschentuch in ihrer Hand zerknüllte.
»Ist Esme bei Ihnen?«, fragte sie.
»Nein. Ich habe sie heute noch nicht gesehen. Als ich vorhin für eine Weile ausging, dachte ich, sie schliefe noch.« Eigentlich hatte er sogar angenommen, dass sie in ihrem Zimmer geblieben war, um ihm nicht zu begegnen.
»Sie ist aber nicht in ihrem Zimmer«, berichtete Thea mit einem erstickten Schluchzen. »Und ihre Zofe hat sie seit gestern Morgen nicht mehr gesehen. Ich glaube, dass etwas Schreckliches geschehen ist.«
Fielding runzelte besorgt die Stirn. »Sie kennen Esme; vielleicht ist sie einfach nur zu einem Spaziergang in den Park gegangen«, versuchte er die ältere Dame zu beruhigen.
»Nein, das glaube ich nicht. Sie müssen etwas unternehmen!«, flehte Thea.
Fielding drückte ihr beruhigend den Arm. »Ich werde mich darum kümmern.«
Zwanzig Minuten später hatte er das gesamte Haus abgesucht und Esme nirgendwo gefunden. Einer der Bediensteten erinnerte sich, sie am Vortag gegen halb zwölf vormittags gesehen zu haben, als sie das Haus verließ. Zu der Zeit war Fielding auf dem Weg ins Museum gewesen.
Er schaute auf die Uhr in der Halle, die Viertel vor sieben anzeigte. Der Rabe musste Esme in seiner Gewalt haben, eine andere Erklärung gab es nicht. Fielding stürmte die Treppe zu seinem Zimmer hinauf und klappte den Deckel seiner Reisetruhe auf. Es gab nur einen Weg, Esme zurückzuholen. Er nahm die Büchse der Pandora aus der Reisetruhe und steckte sie in eine Tasche. Fünf Minuten später befand er sich in einer Mietkutsche auf dem Weg nach Black Manor.
Soweit er wusste, hatte sein Onkel noch nie einer Frau etwas zuleide getan. Der Rabe hatte zwar mehr als genug Verbrechen auf seinem Konto, zu denen nicht zuletzt wahrscheinlich auch der Mord an Mr. Nichols gehörte, aber Fielding hatte noch nie gesehen, dass er sich an einer Frau vergriffen hätte. Und seine Mutter hatte diesen Mann einmal geliebt, was eigentlich nur
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