Zauberhafte Versuchung
Raben passen, seinen Spott mit ihm zu treiben. Fielding verließ das Haus, stieg auf den Bock der Mietkutsche und nahm dem überraschten Kutscher die Zügel aus der Hand, um selbst zu fahren. Der kalte Nachtwind schlug Fielding ins Gesicht und ließ ihn wünschen, er hätte seinen Mantel mitgenommen, aber sein eigenes Wohlergehen war im Moment unwichtig. Er hatte Thea versprochen, Esme wohlbehalten zurückzubringen, und er wollte verdammt sein, wenn er sein Versprechen nicht erfüllte.
Fünfzehn Minuten später brachte er die Pferde vor seinem Haus zum Halten. Kein einziges Licht drang aus den Fenstern, doch sie konnten trotzdem dort drinnen sein. Dem Raben war es zuzutrauen, dass er sich einen Spaß daraus machte, sich in Fieldings Haus zu verbergen und abzuwarten, wie lange dieser brauchen würde, ihn und Esme dort zu finden. Doch als Fielding die Zimmer absuchte, fand er nirgendwo ein Lebenszeichen der Gesuchten.
Fieldings Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und mit jeder Faser seines Körpers hoffte er, ein Zeichen zu finden, dass Esme in der Nähe war. Er hoffte, den Fliederduft wahrzunehmen, nach dem ihr Haar duftete, oder den Klang ihrer Stimme zu hören. Wenn sie hier war, würde er ihre Nähe dann nicht spüren, es irgendwie fühlen?
Fielding fluchte so laut, dass seine Stimme durch die leeren Gänge seines Hauses hallte. »Esme«, flüsterte er dann und ließ sich auf die Knie fallen. Mehrere Augenblicke lang verharrte er in dieser Haltung. Und dann, als wäre ihm die Antwort zugeflüstert worden, wusste er, wohin der Rabe sie gebracht hatte.
Und er konnte nur hoffen, dass es noch nicht zu spät war.
Zwei Blocks von dem Haus entfernt brachte Fielding die Kutsche zum Halten. Das Überraschungsmoment könnte ihm den Vorteil verschaffen, den er dringend brauchte. Er stieg vom Kutschbock herunter, hieß den Kutscher warten und bewegte sich durch die Dunkelheit leise auf die kleine Holzhütte am Rand der Landungsbrücke zu, unter der die Wellen der Themse träge gegen die Uferlinie schwappten.
Boote wiegten sich knarrend auf dem Wasser und schlugen mit einem rhythmischen Geräusch gegen die Piers. Das Licht des großen, tief am Himmel stehenden Mondes erhellte Fieldings Weg, aber es erinnerte ihn auch daran, wie erbarmungslos für ihn und Esme die Uhr tickte. Bis zur Mondfinsternis war es nur noch ein Tag. Ihnen lief die Zeit davon.
Fielding erreichte das kleine Haus und drückte sich an die Außenwand. Drinnen war das Flackern einer Öllampe zu sehen. Sie waren hier; Fielding war sich dessen jetzt ganz sicher.
Er zog die Pistole aus seinem Hosenbund, während er zum Eingang schlich. Nachdem er noch einmal tief durchgeatmet hatte, warf er sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie löste sich aus ihren Angeln und fiel krachend auf den Boden. Fielding zwang sich, seine Hand und die Pistole ruhig zu halten, als er das Haus betrat.
»Ich habe Miss Worthington gesagt, dass du sie holen würdest«, ließ sich die aalglatte Stimme des Raben aus dem schwach erhellten Raum vernehmen.
»Wo zum Teufel ist sie?«, stieß Fielding hervor.
»Sie wollte mir aber nicht glauben«, fuhr der Rabe fort, als hätte er die Frage nicht gehört. »Sie sagt, du würdest nichts für sie empfinden.«
Fieldings Schuldgefühle wurden übermächtig. Esme war ein weiteres Mal entführt und verschleppt worden. Sie musste geglaubt haben, sie würde sterben, und sie hatte nicht gewusst, was Fielding für sie empfand. In seinem unbeherrschbaren Verlangen nach ihr hatte er ihren Körper benutzt, aber keinen Moment an ihre Gefühle gedacht.
Der Rabe trat aus dem Schatten, und zum ersten Mal, seit Fielding die Wahrheit erfahren hatte, stand er seinem leiblichen Vater gegenüber. Jahrelang waren Fielding äußerliche Ähnlichkeiten zwischen ihm und seinem Onkel aufgefallen - ihre beachtliche Körpergröße beispielsweise. Und auch seine Gesichtszüge ähnelten denen des Mannes, der jetzt vor ihm stand, obwohl Fielding immer geglaubt hatte, die Augen habe er von dem Mann, den er für seinen Vater gehalten hatte.
»Es geht ihr gut«, sagte der Rabe.
Erst jetzt bemerkte Fielding den blutigen Lappen in der Hand des Raben.
»Was zum Teufel ist das?«, fragte er erschrocken.
Ein nicht menschlich klingendes Lachen drang aus der Kehle des Raben. »Was von deinem alten Freund Thatcher übrig geblieben ist.«
Er hatte ihn getötet. So wie er Mr. Nichols getötet hatte. Hatte er auch Esme umgebracht? Fielding kämpfte gegen die Übelkeit an,
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