Zauberhafte Versuchung
stapelten. Auch der Schreibtisch quoll derart über, dass man nicht einmal mehr sehen konnte, aus welchem Holz er war.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Fielding. »In weniger als einer halben Stunde werden die Nachtwächter hier sein.«
Esme warf einen Blick auf die große Standuhr in der Ecke.
»Ich werde nach Unterlagen über Biedermanns Stiftung suchen«, schlug Fielding vor. »Aus ihnen müssten wir entnehmen können, wo im Museum seine Papiere untergebracht sind. Du suchst derweil nach dem Tagebuch, auch wenn die Chance sehr gering ist, es hier zu finden.«
Esme begann, die in einer Ecke aufgestapelten Kartons durchzusehen. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich das hier tue.«
»Vergiss nicht, dass der Vorschlag von deinem Gelehrten-Freund kommt«, entgegnete Fielding. »Und außerdem ist es für einen guten Zweck.«
Esme nickte und fuhr fort, den Inhalt der Kartons zu inspizieren.
»Wie gut kannst du Altgriechisch lesen?«, fragte Fielding paar Minuten später.
Sie blickte von dem Bücherstapel auf, den sie durchsah. »Einigermaßen. Warum?«
»Weil ich den griechischen Text gefunden habe, den dieser Biedermann übersetzt hat.« Fielding hob das Buch hoch. »Das Tagebuch muss hier sein, denn an diesem Buch befindet sich eine Notiz, dass nächste Woche ein Übersetzer kommt.«
Esme schaute wieder auf die Uhr. »Uns bleiben nur noch knapp zehn Minuten, Fielding.«
»Wir werden es schon finden.«
Sie ging zu einer Reihe Bücher, die auf dem Fensterbrett lag, und sah sie durch. Sie war fast damit durch, als sie ein kleines, in Leder gebundenes Buch herauszog. »Sieh mal, das könnte es sein«, sagte sie zu Fielding.
Er kam zu ihr und blätterte das Büchlein durch.
»Ich glaube, die Seiten sind aus Papyrus. Biedermann muss es eigens für sich bestellt haben«, sagte sie mit unüberhörbarem Erstaunen.
Biedermanns Handschrift war klein und eng und ließ sich im Dämmerlicht des Zimmers nicht entziffern.
»Was sollen wir tun?«, fragte Esme. »Wir müssten Licht machen, um es lesen zu können, aber dadurch machen wir die Nachtwächter auf uns aufmerksam. Und es sieht auch nicht so aus, als müsste man es einfach nur schnell durchblättern, um die richtige Seite zu finden.«
»Wir nehmen es mit«, schlug Fielding vor.
»Du meinst, wir sollen es stehlen?« Esme drückte das Buch an ihre Brust. »Aus dem Museum?«
»Hast du eine bessere Idee? Wie du schon sagtest, sind unsere Möglichkeiten, es hier zu lesen, sehr begrenzt.«
Der Blick, mit dem Esme erst Fielding und dann das Buch ansah, wirkte alles andere als überzeugt.
Fielding zeigte auf die Bücher auf dem Fensterbrett, zwischen denen sie das Tagebuch gefunden hatte. »Es scheint sich jedenfalls nicht auf ihrer Liste der wertvollsten Gegenstände zu befinden.«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Ich nehme es mit, Esme, du bist also nur meine Komplizin. Sie werden es wahrscheinlich nicht einmal vermissen, wenn wir es rechtzeitig zurückbringen.«
Esme atmete tief ein. »Uns bleibt wohl auch keine andere Wahl. Ich kann es wirklich kaum erwarten, dieses verfluchte Armband loszuwerden.«
»Genau. Denn sonst spielst du vielleicht auch weiterhin die Femme fatale und nutzt meine Schwächen aus«, erwiderte er mit einem breiten Grinsen. Esme runzelte die Stirn. »Das ist nicht lustig.« Das Schlagen der Standuhr ließ sie zusammenfahren. »Das war's«, sagte Fielding. »Unsere Zeit ist abgelaufen.«
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15. Kapitel
Z wei Stunden später saßen Esme und Fielding im Hause des Marquis in ihrem Arbeitszimmer und lasen das Tagebuch. Die handbeschriebenen Seiten enthielten auch Zeichnungen und Diagramme, die Mr. Biedermann für wichtig gehalten zu haben schien. Bisher hatten sie jedoch nichts entdeckt, was ihnen hätte nützlich sein können.
Schließlich stand Fielding auf, um sich die Beine zu vertreten. Er hatte das Gefühl, als säßen sie schon ewig vor dem Biedermann'schen Tagebuch, und dabei hatten sie bisher nur eine Erläuterung gelesen, die sich mit der hierarchischen Struktur der auf dem Olymp lebenden Götter befasste.
»Das alles ist faszinierend, aber es hilft uns absolut nicht weiter«, stellte Esme fest, als sie mit vor Konzentration gerunzelter Stirn die nächsten Seiten überflog. »Aber wir müssen trotzdem weiterlesen. Ich weiß, dass wir etwas finden werden.«
Fielding lehnte sich an den Kamin und beobachtete, wie Esme eine Seite überflog
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