Zauberkusse
Ihr molliger Körper ist in ein weites Gewand aus fließendem, lilafarbigen Stoff gehüllt, über das runde Gesicht unter der wilden, dunkelrot gefärbten Dauerwelle wurde anscheinend ziemlich wahllos ein Tuschkasten ausgekippt. Sie zwinkert mir zur Begrüßung freundlich zu und eröffnet dadurch ungehindert die Sicht auf ihre knallblau angemalten Liddeckel. Grauslich! Das war doch sogar in den Achtzigern schon hässlich. Die Schimmerpartikel finden sich im leuchtenden Pink ihrer Lippen wieder, die sie großzügig bis über den Rand hinaus übermalt hat. Dazu falsche Wimpern und eine ordentliche Ladung orangefarbenes Rouge auf den Wangenknochen. Das Alter der Dame ist schwer zu schätzen, denn die klaren, grauen Augen, die mich förmlich zu durchbohren scheinen, passen so gar nicht zu der faltigen Gesichtshaut und der mit Altersflecken und dicken, blauen Adern übersäten Hand, die sich mir jetzt entgegenstreckt.
»Herzlich Willkommen«, ertönt wieder diese volle, wohlklingende Stimme und vertrauensvoll lege ich meine Hand in ihre.
»Komm, wir gehen weiter«, flüstert Loretta und zupft mich am Ärmel. Ein Blick aus den unheimlichen Augen trifft sie, woraufhin sie wie ertappt den Mund schließt und angestrengt in eine andere Richtung schaut.
»Gehen Sie nur, mein Kind«, kommt es gleichmütig von Madame Thekla, »aber Sie«, damit meint sie mich, »kommen besser zu mir herein. Ich kann Ihnen helfen.« Damit lässt sie meine Hand los und verschwindet im Inneren ihres Wohnwagens. Ohne Umschweife will ich ihr folgen, doch Loretta hält mich zurück.
»Du willst doch nicht allen Ernstes da rein?«, fragt sie und sieht mich an, als sei ich nicht mehr ganz richtig im Kopf.
»Warum nicht?«
»Das ist eine Quacksalberin, die dir dein sauer verdientes Geld aus der Tasche ziehen wird. Komm, wir hauen ab.« Damit will sie mich in Richtung Feldstraße davonziehen, doch ich bleibe stehen wie ein sturer Maulesel.
»Sie hat gesagt, dass sie mir helfen kann. Woher weiß sie, dass ich Hilfe brauche«, gebe ich zu bedenken und Loretta seufzt gequält auf:
»Nimm es mir nicht übel, Luzie, aber du siehst nicht gerade aus wie das blühende Leben. Ein Blinder würde sehen, dass es dir nicht gut geht.« Unter normalen Umständen wäre ich jetzt beleidigt, aber dazu ist keine Zeit. Irgendetwas zieht mich zu diesem Wohnwagen hin. Ich kann nicht genau sagen, was es ist.
»Vielleicht ist es kein Zufall, dass wir beide heute auf den Dom gegangen sind. Und dass in genau diesem Moment unser Weg zu diesem Wohnwagen geführt hat. Gerade, als Madame Thekla hinausgeschaut hat.« Leider hat Loretta nur ein höhnisches Lachen für meine Theorie übrig:
»Genau, ganz zufällig hat sie hinausgeschaut, als wir gerade vorbeispazierten«, spottet sie, »dabei sitzt sie den ganzen Tag hinter diesem Vorhang und lauert darauf, dass jemand stehen bleibt, den sie zu sich hereinlocken kann.« Plötzlich habe ich keine Lust mehr, mit meiner Freundin zu diskutieren. In diesem Moment nähern sich nämlich zwei junge, dunkelhaarige Frauen kichernd dem Wohnwagen.
»Hier ist es«, sagt die eine und nimmt ihre anscheinend zögernde Freundin bei der Hand, »los komm!«
»Ich gehe jedenfalls jetzt da rein«, sage ich schnell zu Loretta und verstelle den beiden Herankommenden den Weg. »Tut mir leid«, sage ich und hebe bedauernd die Schultern, »ich bin erstmal an der Reihe. Und wenn du nicht mitwillst, dann kannst du ja hier draußen warten.« Das will Loretta aber dann doch nicht, denn sie verdreht zwar noch ein letztes Mal übertrieben die Augen, folgt mir dann aber brav die zwei Stufen hinauf in Madame Theklas Reich.
Leise sphärische Klänge dringen an mein Ohr, sobald ich den Vorhang zur Seite geschoben habe, und ein durchdringender Geruch nach Moschus und Räucherstäbchen steigt mir in die Nase. Wir betreten den von Rauchschwaden durchzogenen Innenraum des Wohnmobils, dessen Wände ganz mit goldenen Tapeten ausgekleidet sind. Auf dem Boden befinden sich dicke, gemütlich aussehende dunkelrote Sitzkissen, die um einen flachen, runden Holztisch drapiert sind. Hinter diesem sitzt mit gekreuzten Beinen, den Blick gesenkt, Madame Thekla. Weiter hinten, vor der Fahrerkabine, befindet sich eine Art Altar, der von Grünpflanzen umgeben ist und auf dem sich allerlei Figürchen, Kerzen, Steine und Federn befinden. In der Mitte eine große, dunkelbraune Schale, aus der ununterbrochen dichter Qualm aufsteigt. Zögernd bleiben wir im Eingang stehen, bis uns
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