Zauberkusse
liebst mich überhaupt nicht«, jaule ich auf. »Sonst hättest du es ihr gesagt.«
»Ich sage dir doch, es ging wirklich nicht.«
»Warum?«, fauche ich ihn an. »Warum konntest du es ihr nicht sagen? Warum war es mal wieder …« Ich hole tief Luft und lege alle Verachtung, die ich aufbringen kann, in meine Worte: »... nicht der richtige Zeitpunkt?«
»Weil Anna gestern einen Autounfall hatte, mit Schmerzmitteln vollgepumpt ist und sich kaum bewegen kann.«
»Oh.«
»Ja, oh.«
»Schlimm?«, erkundige ich mich und er wiegt unbestimmt den Kopf hin und her:
»Irgend so ein Idiot ist ihr fast ungebremst hinten drauf gefahren. Sie hat ein Schleudertrauma erlitten und ziemlich starke Schmerzen.«
»Oh«, sage ich erneut, als sich Frau Saalberg mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck an Gregor vorbeidrängelt.
»Junger Mann, Sie stehen mir im Weg.«
»Verzeihung.« Er geht einen Schritt zur Seite, während ich mich beeile, die Haustüre aufzuschließen.
»Morgen, Frau Saalberg.« Damit schiebe ich sie, die Sensationslust in ihren Augen ignorierend, ins Treppenhaus, ziehe die Tür zu und wende mich wieder an Gregor.
»Luzie, ich verstehe, dass du mir nicht glaubst und dass du ungeduldig bist, aber ich konnte es nicht tun. Ich kann ihr doch nicht unsere Ehe vor die Füße schmeißen, wenn sie kaum in der Lage ist, etwas zu sagen. Das geht doch nicht.« Hilfesuchend sieht er mich an.
»Nein, das geht wohl nicht«, gebe ich zu und er umarmt mich stürmisch.
»Lass uns nach oben gehen«, bittet er, doch ich entwinde mich ihm.
»Nein. Komm, wir gehen was frühstücken«, schlage ich vor, denn ganz so schnell möchte ich doch nicht von meinem Plan abrücken, der da lautet: Ich schlafe erst wieder mit Gregor, wenn er ein freier Mann ist. Ich gehe voran, doch er macht keine Anstalten, mir zu folgen. Verwundert drehe ich mich zu ihm um, wie er verlegen von einem Bein aufs andere tritt und die Hände in den Hosentaschen vergräbt.
»Ich muss in zwei Stunden wieder zu Hause sein«, rückt er mit der Sprache heraus, »Anna muss noch mal zum Arzt.« Ich kralle die Fingernägel meiner Linken in die rechte Handfläche, sage aber betont locker:
»Zwei Stunden? Das sollte für ein Frühstück wohl reichen.«
»Aber ich dachte …«
»Ja? Du dachtest?«
Ich bin ein schwacher Mensch. Und doof dazu. Statt in gebührendem Abstand zu Gregor an einem Tisch im Balzac-Café zu sitzen und Kaffee und Muffin zu verspeisen, wälze ich mich wenige Minuten später gemeinsam mit ihm durch die Laken. Was wie immer wundervoll ist. Ihn eineinhalb Stunden später an der Tür zu verabschieden ist weniger wundervoll. Ich sehe ihm hinterher, wie er sich Stufe um Stufe von mir entfernt. Wie er zu ihr geht, um sich um sie zu kümmern, sie zum Arzt zu begleiten. Er schaut noch einmal hoch zu mir und wirft mir einen Kuss zu. Ich verziehe meinen Mund zu so etwas wie einem Lächeln. Von dort unten kann er nicht sehen, dass meine Unterlippe dabei verdächtig zittert. Seine Gestalt verschwimmt vor meinen Augen, als mich ein Geräusch an der gegenüberliegenden Tür aus meinen Gedanken reißt. Eine Sekunde später steht mir Frau Saalberg gegenüber.
»Das war ja ein kurzer Besuch«, meint sie und mustert mich ungeniert von oben bis unten, die ich, nur mit meiner langen, beigefarbenen Strickjacke bekleidet, vor ihr stehe. Ich ziehe den Gürtel fester um mich und wundere mich mal wieder über die Dreistigkeit meiner Nachbarin. Sie tut noch nicht einmal so, als hätte es einen Grund für sie gegeben, die Türe zu öffnen. Mal abgesehen von dem, in meinen Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln. Nein, sie steht einfach da, heute in einem knallgrünen Trainingsanzug, lehnt sich gegen den Türrahmen und glotzt. »Lassen Sie mich raten, jetzt geht er zurück zu seiner Frau.« Fassungslos starre ich sie an. Woher weiß sie das? Ist es so offensichtlich? Und da sehe ich es schon in ihren Augen aufblitzen, das Mitleid. Gepaart mit einem Schuss: »Mann, ist die doof.«
»Das geht Sie einen feuchten Kehricht an«, will ich sagen, aber mal wieder bringe ich es nicht über mich. Stattdessen drehe ich mich abrupt um und flüchte in meine Wohnung.
»Sie hatte einen Auffahrunfall. Schleudertrauma«, erkläre ich Loretta etwas später am Telefon und die gibt einen verächtlichen Laut von sich.
»Und das glaubst du ihm?«
»Ja, natürlich. Oh Gott, meinst du etwa, er hat mich angelogen?« Wenn ich an diese Möglichkeit denke, wird mir ganz schwarz vor
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