Zauberkusse
Hörer und blinzele vorsichtig aus meinen verquollenen Augen hinaus in Richtung Fenster. Draußen herrscht eine ganz merkwürdige Stimmung, irgendwie wirkt das Licht verschleiert, als sei der Tag noch nicht ganz erwacht. Tatsächlich, es ist halb sieben Uhr morgens. Wer wagt es?
»Frau Kramer, hier spricht Evelyn Brunke«, flötet meine Immobilienmaklerin am anderen Ende der Leitung.
»Morgen, Frau Brunke«, krächze ich.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, fragt sie mit einem kummervollen Unterton und ich schüttele heftig den Kopf, obwohl sie das ja gar nicht sehen kann.
»Nein, nein«, versichere ich und richte mich im Bett auf. Was für ein Tag ist heute? Welcher Monat? Welches Jahr?
»Da bin ich aber froh, hören Sie, ich habe die Location für Ihr Café an der Hand. Ein Goldstück und ein absoluter Geheimtipp«, beginnt Frau Brunke mit sich überschlagender Stimme zu schwärmen, als mir plötzlich wieder einfällt, weshalb meine Augen sich anfühlen, als hätte ich mitten in einem Kornblumenfeld übernachtet und was es mit diesem unbestimmten Gefühl des nahenden Unglücks auf sich hat. Gregor. Wow! Es hat fast eine ganze Minute gedauert, ich mache Fortschritte. »Top gelegen mitten in der Hamburger Schanze. Und vergleichsweise günstig zu mieten«, plappert Evelyn weiter, »nur ein wenig renovierungsbedürftig ist es, das sollten Sie Ihrer Anwältin vielleicht vorher sagen.« Da hat jemand richtig Angst vor Loretta. »Aber Sie müssten so schnell wie möglich vorbeikommen und sich das Lokal anschauen. Am besten noch vor acht. Was sagen Sie?« Erwartungsvoll wartet sie auf meine Antwort.
»Es tut mir leid«, sage ich gedehnt in den Hörer, »aber ich kann heute nicht. Unmöglich. Ich bin krank«, füge ich hinzu und schniefe zum Beweis lautstark.
»Ja, aber -«
»Vielen Dank für Ihren Anruf.«
»Aber -«
»Auf Wiederhören.« Damit drücke ich das Gespräch weg und ziehe mir die Decke über den Kopf.
Ich laufe durch eine verschneite Winterlandschaft. Keine Menschenseele weit und breit, nur ich und die weiße Schneedecke, die in der Sonne glitzert und funkelt. Ich bin ganz allein und es ist merkwürdig still um mich herum. Ich kuschele mich tiefer in meinen dicken, braunen Wintermantel und stapfe durch den Schnee. Jeder Schritt wird von einem knirschenden Geräusch begleitet. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Irgendetwas hat sich verändert. Ich schaue auf meine Füße hinunter und mustere meine rotlackierten Zehennägel, registriere, dass ich barfuss bin. Dass mir kalt ist. Bitterkalt. Ich bewege die blaugefrorenen Zehen. Etwas zerrt an meinem Mantel. Panisch sehe ich mich um, doch da ist niemand, auch kein Windzug ist zu spüren, dennoch zieht da etwas beharrlich an mir. Mit beiden Händen umklammere ich den dicken Kragen, doch mit einem Ruck wird mir der Mantel endgültig vom Leib gerissen. Sofort bildet sich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper und ich kauere mich fröstelnd zusammen. Mein Mantel, wo ist er hin? Ich hebe den Kopf und öffne die Augen.
Vor mir steht, meine Bettdecke zusammengeknüllt vor der Brust, eine grinsende Loretta. Ich liege in meinem Bett, die Knie bis unters Kinn gezogen und schlottere vor Kälte.
»Aufstehen, du Schlafmütze«, fordert Loretta.
»Gib mir meine Decke zurück«, jammere ich kläglich und sie wirft sie mir an den Kopf. »Was machst du eigentlich hier«, frage ich, während ich versuche, den Deckenwust wieder gleichmäßig über meinen Körper zu verteilen, »ich finde es eine Unsitte, dass neuerdings Menschen einfach so in meine Wohnung eindringen.«
»Immerhin ist die Tür noch ganz. Ich habe meinen Zweitschlüssel benutzt.«
»Den hätte ich dir vielleicht lieber nicht geben sollen«, stöhne ich und tauche wieder unter meine Decke ab.
»Es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen will.«
»Und?«, frage ich wenig interessiert, da reißt sie mir schon wieder die Decke weg, was mich zu einem markerschütternden Schrei veranlasst. Langsam werde ich richtig böse. Wütend funkele ich zu Loretta hoch, aber die sieht mich ihrerseits so streng an, dass ich erschrocken den Kopf einziehe.
»Ich lasse nicht zu, dass du die Chance deines Lebens vorbeiziehen lässt«, sagt sie bestimmt und zerrt mich aus dem Bett. »Ich habe eben einen Anruf von Evelyn Brunke bekommen«, schneidet sie meinen Protestschrei ab und schubst mich den Flur hinunter in Richtung Badezimmer, »wir haben noch genau fünfundzwanzig Minuten Zeit, um den Laden als
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