Zauberkusse
Ich spüre Gregors Herz in seiner Brust schlagen, fühle den sich verstärkenden Griff seiner Hände an meiner Hüfte. Hör auf, schubs ihn weg, gib ihm eine Kopfnuss, fordern die Stimmen in meinem Inneren und ich möchte auf sie hören. Wirklich. Rein theoretisch weiß ich, dass sie recht haben. Dass er nicht einfach hier auftauchen und mich küssen kann, nach allem, was gewesen ist. Aber ich bin wie paralysiert. Im Zeitlupentempo bewegen sich unsere Lippen aufeinander zu und obwohl sie noch Millimeter voneinander entfernt sind, kann ich die prickelnde Energie dazwischen spüren. Vor meinem inneren Auge erscheinen plötzlich zwei weibliche Gesichter, die meinem ähnlich sehen. Melanie, der ich vorgestern geraten habe, sich Gregor aus dem Kopf zu schlagen. Und Anna, der ich geholfen habe, ihn zu überführen. Die in meiner Wohnung, an meinem Küchentisch gesessen und sich die Augen aus dem Kopf geweint hat. Der ich mein blaues, vierlagiges Toilettenpapier gereicht habe, um sich damit die Tränen zu trocknen. Der gegenüber ich ein ehrlich schlechtes Gewissen gehabt habe. In diesem Moment berührt Gregors Mund meinen. Er schmeckt so vertraut und ich bin so voller Sehnsucht nach ihm, dass ich mich ihm entgegenlehne und seinen Kuss erwidere. Als ich meinen Mund öffne, um seine Zunge hineinzulassen, verzieht die Anna in meinem Kopf grimmig das Gesicht und sagt: »Jede nimmt sich, was sie kriegen kann.« Erschrocken ziehe ich meinen Kopf zurück und weiche einen Schritt vor Gregor zurück. Er reagiert nicht sofort auf meinen Rückzug und steht für den Bruchteil einer Sekunde noch mit geschlossenen Augen vor mir, bevor er sie überrascht aufschlägt.
»Was ist denn?«, fragt er mit weicher Stimme und folgt mir nach.
»Nicht«, wehre ich ab und drehe meinen Kopf zur Seite. »Ich … mir ist kalt, ich muss mir was überziehen«, stammele ich und flüchte ins Schlafzimmer, wo ich meine dicke Strickjacke und Wollsocken aus dem Schrank ziehe. Ich höre, wie die Wohnungstür ins Schloss fällt und sehe erschrocken in den Flur. Ist er jetzt etwa einfach so abgehauen? Aber nein, da steht er, mit der Schulter gegen die Wand gelehnt und seine gepackte Sporttasche neben sich. »Gregor, das geht so nicht«, sage ich mit aller Willenskraft, die ich aufbringen kann und ziehe den Reißverschluss meiner Jacke nach oben. »Du kannst doch nicht einfach hier auftauchen und so tun, als sei nichts gewesen.«
»Aber das will ich doch auch nicht«, beteuert er und will einen Schritt auf mich zu machen.
»Bleib lieber, wo du bist.« Schulterzuckend lehnt er sich wieder an die Wand.
»Ich weiß, es war schrecklich, wie ich dich behandelt habe. Ich habe gelogen. Und ich habe auf deinen Gefühlen herumgetrampelt.« Ich schlucke schwer.
»Allerdings. Das hast du.«
»Es tut mir leid«, sagt er reumütig und kommt jetzt doch auf mich zu. »Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, wie ich mich trennen sollte.«
»Ach, und wieso ging das jetzt plötzlich?«, frage ich misstrauisch und er lächelt mich an.
»Weil ich lieber sie verliere als dich«, antwortet er.
Anna hatte leider recht: Es gibt keine Loyalität unter Frauen. Eine Stunde später liege ich nackt neben Gregor in meinem Bett und starre an die Decke. Er kuschelt seinen Lockenkopf an meine Schulter, streichelt meinen Bauch und wirkt ganz entspannt. Ganz anders als ich. Es war wunderschön mit ihm, dennoch fühle ich mich nicht glücklich. Warum habe ich das getan? Weil ich ihn liebe? Weil ich mich stunden-, tage- und wochenlang danach gesehnt habe? Ich weiß es nicht. Und ich frage mich, was Loretta wohl zu dieser neuen Entwicklung sagen wird. Eigentlich möchte ich nicht so genau darüber nachdenken. Und Anna?
»Was macht Anna denn jetzt«, erkundige ich mich und Gregors Hand verharrt einen Augenblick, bevor er mich weiterstreichelt.
»Sie ist zu ihrer Mutter nach München geflogen«, antwortet er. »Sie wollte nicht zusehen, wie ich meine Sachen packe.«
»Das kann ich verstehen«, sage ich nachdenklich. Arme Anna.
»Komm, lass uns jetzt nicht davon sprechen«, meint Gregor und kuschelt sich noch enger an mich. Ich nicke zustimmend. Er hat recht. Nicht davon sprechen. Nicht darüber nachdenken.
»Wo willst du jetzt eigentlich hin?«, erkundige ich mich, als ich aus dem Badezimmer zurückkomme, und beinahe über Gregors Tasche gefallen wäre, die mitten im Flur steht.
»Wieso?«, fragt der zurück und richtet sich im Bett halb auf. »Möchtest du denn nicht,
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