Zauberschiffe 01 - Der Ring der Händler
urteilen können, weil wir nicht über die absolute Gnade und die absolute Gerechtigkeit verfügen, um dies zu tun. Vielleicht ist es uns nur bestimmt, zu vergeben und zu trösten.«
Berandol schüttelte den Kopf. »In einem kurzen Moment hast du mehr Knoten durchtrennt, als ich in sechs Monaten gelöst habe. Doch wenn ich mich umsehe, erblicke ich viele Priester, die urteilen. Die Wanderer unseres Ordens tun nichts anderes, als die Streitigkeiten der Menschen zu schlichten. Also müssen sie irgendwie den Dreiunddreißigsten Widerspruch überwunden haben.«
Der Junge sah ihn neugierig an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Er errötete und schloss ihn wieder.
Berandol sah seinen Schützling an. »Was es auch sein mag, sprich es aus. Ich werde dich nicht tadeln.«
»Das Problem ist, dass ich dich tadeln wollte«, gestand Wintrow. Der Junge strahlte, als er weitersprach. »Aber ich habe mich vorher zusammengenommen und es nicht getan.«
»Und was wolltest du mir sagen?«, setzte Berandol nach.
Als der Junge den Kopf schüttelte, lachte sein Tutor laut auf.
»Komm schon, Wintrow Glaubst du, ich wäre so unfair, dir deine Worte übelzunehmen, wenn ich dich auffordere zu sprechen? Was hast du gedacht?«
»Ich wollte dir sagen, dass du dein Verhalten nach den Geboten Sas ausrichten solltest und nicht nach dem, was du andere tun siehst«, erwiderte der Junge aufrichtig, doch dann senkte er den Blick. »Ich weiß, dass es mir nicht zusteht, dich darauf hinzuweisen.«
Berandol schien jedoch zu tief in Gedanken, als daran Anstoß zu nehmen. »Wenn ich jedoch den Geboten allein folge und mir mein Herz sagt, dass ein Mensch unmöglich so urteilen kann, wie es Sa tut, mit absoluter Gerechtigkeit und absoluter Gnade, dann muss ich zu dem Schluss kommen…« Er sprach langsamer, als wehre er sich gegen den Gedanken. »Ich muss zu dem Schluss kommen, dass die Wanderer entweder über eine größere geistige Tiefe verfügen als ich oder dass sie nicht mehr Recht haben zu urteilen als ich.«
Sein Blick glitt zwischen den Apfelbäumen umher. »Kann es denn sein, dass ein ganzer Zweig unseres Ordens ohne jedes Recht existiert? Ist allein dieser Gedanke nicht schon eine Verletzung der Loyalität?«
Sein beunruhigter Blick blieb an dem Jungen hängen.
Wintrow lächelte erst. »Wenn die Gedanken eines Mannes den Geboten Sas folgen, dann können sie nicht irreführen.«
»Ich muss mehr darüber nachdenken«, schloss Berandol mit einem Seufzer und bedachte Wintrow mit einem Blick herzlicher Zuneigung. »Ich segne den Tag, an dem du mir als Schüler zugeteilt wurdest. Obwohl ich mich oft frage, wer hier eigentlich der Schüler und wer der Lehrer ist. Ich werde dich vermissen.«
Wintrow sah ihn plötzlich besorgt an. »Mich vermissen? Gehst du fort? Bist du so schnell in den Dienst gerufen worden?«
»Nein, ich nicht. Ich hätte dir diese Neuigkeiten sicherlich geschickter übermitteln sollen, aber wie immer haben mich deine Worte weit von meinem anfänglichen Ziel abgebracht. Nicht ich verlasse das Kloster, sondern du. Deshalb habe ich dich heute gesucht. Ich bitte dich zu packen, denn du bist nach Hause gerufen worden. Deine Großmutter und deine Mutter haben uns Nachricht geschickt, dass dein Großvater im Sterben liegt. Sie möchten dich in einer solchen Zeit in ihrer Nähe haben.«
Als er die Verzweiflung auf dem Gesicht des Jungen sah, fügte Berandol hinzu: »Es tut mir leid, dass ich so geradeheraus war. Du sprichst so selten von deiner Familie. Ich wusste nicht, dass du deinem Großvater so nahe standest.«
»Das tue ich auch nicht«, gab Wintrow zu: »Um die Wahrheit zu sagen: Ich kenne ihn kaum. Als ich noch klein war, war er immer auf See. Und wenn er zu Hause war, hat er mir nur Angst eingejagt. Nicht durch Grausamkeit, sondern durch seine… Macht. Alles an ihm schien zu groß für den Raum zu sein, von seiner Stimme bis zu seinem Bart. Selbst als ich noch klein war und andere Leute belauscht habe, wie sie über ihn redeten, war es, als sprächen sie von einer Legende oder einem Helden. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich ihn jemals Opa oder auch nur Großvater genannt habe. Wenn er heimgekommen ist, fegte er durch das Haus wie ein Nordwind. Ich habe vor seiner Gegenwart immer eher Schutz gesucht, als dass ich sie genossen hätte. Als man mich vor ihn gezerrt hat, kann ich mich nur noch daran erinnern, dass er etwas an meinem Wachstum auszusetzen hatte. ›Warum ist der Junge so winzig?‹, wollte
Weitere Kostenlose Bücher