Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
so groß.
Es war ein Unfall. Das Hanfseil hatte Wintrows Hand mitgerissen und seine Finger in eine Rolle gerammt. Viviace erinnerte sich zornig an Torgs Worte, als der Junge zusammengerollt auf dem Deck lag und seine blutende Hand gegen die Brust drückte. »Geschieht dir recht, wenn du nicht aufpasst, du feiger kleiner Zwerg. Du hast einfach nur das Glück des Dummen gehabt, dass nicht gleich deine ganze Hand zertrümmert worden ist. Und jetzt rappel dich hoch und geh an die Arbeit. Hier wird dir keiner die Nase wischen und deine kleinen Äuglein trocknen.«
Dann war er weggegangen und hatte es einem schuldbewussten Mild überlassen, mit einem beinahe sauberen Taschentuch Wintrows Finger zu verbinden.
Es war Mild, der die Leine losgelassen hatte. Derselbe Mild, dessen gebrochene Rippen immer noch verbunden waren und nur langsam heilten.
»Es tut mir leid«, sagte Wintrow jetzt leise zu Viviace. Sie hatten eine lange Zeit schweigend verbracht. »Ich sollte nicht so mit dir reden. Du bringst mir mehr Verständnis entgegen als alle anderen an Bord… Wenigstens bemühst du dich darum zu verstehen, was ich empfinde. Es ist wirklich nicht deine Schuld, dass ich so unglücklich bin. Es ist nur so, dass ich hier sein muss, wo ich doch eigentlich gern woanders wäre. Und das Wissen, dass mein Vater mich nicht zwingen würde hierzubleiben, wenn du nicht ein Lebensschiff, ein Zauberschiff wärst. Deshalb gebe ich dir die Schuld, obwohl du nichts dafür kannst, dass du bist, was du bist.«
»Ich weiß«, erwiderte Viviace teilnahmslos. Sie wusste nicht, was schlimmer war: wenn er mit ihr sprach oder wenn er schwieg.
Die Stunde morgens und abends, die er mit ihr verbrachte, war von seinem Vater angeordnet. Sie wusste nicht, warum Kyle ihn dazu zwang. Hoffte er vielleicht, dass sich dadurch wundersamerweise ein Band zwischen ihnen entwickelte?
Sicher konnte er nicht so dumm sein. Wenigstens konnte er nicht ernsthaft annehmen, dass er den Jungen zwingen konnte, sie zu lieben. Sie war, was sie war, und der Junge war, was er war. Deshalb hatte sie keine Wahl, als sich mit ihm verbunden zu fühlen. Sie dachte an den Sommerabend zurück, der jetzt schon so lange her zu sein schien, an diese erste Nacht, die er bei ihr an Bord verbracht hatte. Wenn es ihnen nur erlaubt gewesen wäre, allmählich eine Beziehung aufzubauen, auf natürlichem Weg… Aber es hatte keinen Sinn, an solchen Vorstellungen festzuhalten, genauso wenig, wie es klug war, an Althea zu denken. Wie Viviace wünschte, dass sie jetzt hier wäre. Es war schon schwer genug, ohne Althea zu sein, ganz zu schweigen davon, auch noch ständig darüber nachzudenken, was wohl aus ihr geworden war. Viviace seufzte.
»Sei nicht traurig«, tröstete sie Wintrow und seufzte im nächsten Moment, als er begriff, wie albern seine Worte klangen. »Ich nehme an, es ist genauso schwer für dich wie für mich.«
Sie hätte zuviel darauf antworten können, also sagte sie nichts.
Das Wasser floss unter ihrem Bug vorbei, und die abendliche Brise trieb sie an. Der Mann am Ruder lenkte sie leicht mit kundiger Hand. Das sollte er auch. Schließlich war er einer von Kapitän Vestrits handverlesenen Leuten und schon beinahe zwanzig Jahre an Bord. Es war ein Abend, der einen mit Frieden hätte erfüllen können. Sie segelten nach Süden, weg von dem kalten Winter in die Wärme. Deshalb schmerzte ihr Unglück sie umso mehr.
Es waren die Dinge, die der Junge in den letzten Tagen zu ihr gesagt hatte, Worte, die er aus Wut, Frustration und Kummer gesprochen hatte. Sie erkannte diese Worte natürlich als das, was sie waren: Wintrow wütete gegen sein Schicksal, nicht gegen sie. Dennoch schien sie sie einfach nicht vergessen zu können, und sie schmerzten wie Widerhaken im Fleisch, wenn sie daran dachte. Gestern Abend nach einer besonders schweren Wache hatte er sie geschmäht, hatte ihr gesagt, dass Sa keinen Anteil an ihrem Wesen hätte und sie infolgedessen auch nicht an seiner göttlichen Macht teilhabe. Sie wäre nur eine Simulation von Leben und Geist, von Menschen erschaffen, die lediglich ihre eigene Gier befriedigen wollten. Die Worte hatten sie schockiert und entsetzt, und was die Sache noch schlimmer machte, war, dass Kyle auftauchte. Er schlich sich von hinten an den Jungen heran und schlug ihn voller Wut nieder, weil er sie so aufregte.
Selbst die freundlicher gesonnenen Mitglieder der Mannschaft hatten seitdem schlecht von Wintrow gesprochen. Sie unkten, dass ihnen der Junge
Weitere Kostenlose Bücher