Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
weigerte, den entzündeten Finger seines Sohnes zu amputieren, hatte er irgendwie verloren.
Aber was verloren? Sie war nicht sicher, aber sie vermutete, dass es etwas damit zu tun hatte, wer tatsächlich Wintrows Leben kontrollierte. Vielleicht war es eine Aufforderung des Jungen an seinen Vater, endlich zuzugeben, welches Leben er seinem Sohn aufgezwungen hatte. Und zwar, indem er ihn vollständig mit seiner Grausamkeit konfrontierte. Außerdem schien es auch darum zu gehen, die Intaktheit seines Körpers zu riskieren, was er in der Stadt noch verweigert hatte. Dafür hatten sie ihn einen Feigling geschimpft und geglaubt, dass er Angst vor Schmerzen hätte. Sie war stolz auf ihn. Er war wirklich anders als jeder Vestrit, der jemals zuvor auf ihren Planken gestanden hatte.
»Ich rufe den Maat«, antwortete Kyle entschieden.
»Der Maat wird nicht genügen«, versicherte ihm Wintrow gelassen.
Kyle ignorierte ihn. Er ging zur Tür, öffnete sie und brüllte:
»GANTRY! Ich bin Kapitän dieses Schiffes«, sagte er anschließend zu Wintrow. »Und auf diesem Schiff sage ich, was geschieht oder nicht. Und ich ordne auch an, wer welche Aufgaben erledigt. Der Maat verarztet die Mannschaft, nicht ich.«
»Ich hatte gedacht, dass mein Vater es vielleicht selbst tun möchte«, meinte Wintrow leise. »Aber ich sehe, dass Ihr nicht den Mut dazu habt. Dann warte ich also auf dem Vordeck.«
»Das ist keine Frage von Mut«, fuhr Kyle wütend auf. In diesem Augenblick begriff Viviace, was Wintrow getan hatte.
Irgendwie hatte er diese Angelegenheit von einer Sache zwischen Kapitän und Schiffsjungen zu einer zwischen Vater und Sohn gemacht.
»Dann komm und sieh zu, Vater. Und gib mir Mut.«
Wintrow sprach dieses Ersuchen ganz schlicht aus. Es war kein Flehen, sondern eine einfache Bitte. Er trat aus der Kabine, ohne zu warten, bis er entlassen wurde, ja, er wartete nicht einmal auf eine Antwort. Als er wegging, kam Gantry. Kyle trug ihm barsch auf, die Schiffsarztausrüstung zu holen und zum Vordeck zu kommen. Wintrow blieb nicht stehen, sondern ging gelassen weiter.
»Sie kommen«, sagte er ruhig zu Viviace. »Mein Vater und der Maat, um mir den Finger zu amputieren. Ich hoffe nur, dass ich nicht schreie.«
»Du hast die Willenskraft dazu«, versprach Viviace. »Leg deine Hand flach auf das Deck, wenn der Schnitt erfolgt. Ich bin bei dir.«
Der Junge antwortete nichts darauf. Eine leichte Brise füllte ihre Segel und wehte den Geruch von Schweiß und Furcht zu ihr herüber. Er saß jedoch geduldig da und pickte den letzten Rest der Bandage von seinem Finger. »Nein.«
Er sprach das Wort mit einer gewissen Endgültigkeit aus. »Den kann man nicht mehr retten. Es ist besser, sich von ihm zu trennen, bevor er den ganzen Körper vergiftet.«
Sie fühlte, wie er sich von dem Finger trennte, fühlte, wie er ihn in seiner Wahrnehmung von seinem Körper löste. In seinem Kopf hatte er ihn bereits amputiert.
»Sie kommen«, sagte Viviace leise.
»Ich weiß.«
Er kicherte nervös. Es war ein unheimliches Geräusch. »Ich fühle sie. Durch dich.«
Es war das erste Mal, dass er es zugab. Viviace wünschte, es wäre ein andermal passiert, wenn sie Zeit hatten, ungestört miteinander darüber zu sprechen, um diese Vereinigung näher zu ergründen. Aber die beiden Männer waren schon auf dem Vordeck. Wintrow sprang auf die Füße und sah ihnen entgegen.
Seine verletzte Hand ruhte auf seiner gesunden, als bringe er ein Opfer dar.
Kyle deutete mit dem Kinn auf seinen Sohn. »Der Junge denkt, sein Finger muss amputiert werden. Was glaubst du?«
Wintrows Herz schien einen Schlag auszusetzen und pochte dann weiter. Wortlos hielt er dem Maat die Hand hin.
Gantry fletschte vor Widerwillen die Zähne. »Der Junge hat recht.«
Er sprach zu seinem Kapitän, nicht zu Wintrow. Er packte ihn fest am Handgelenk und drehte die Hand, um den Finger von allen Seiten zu betrachten. Dann knurrte er kurz.
»Ich werde ein ernstes Wort mit Torg reden. Den Finger hätte ich früher sehen müssen. Selbst wenn wir ihn jetzt amputieren, braucht der Bursche mindestens einen Tag Ruhe. Für mich sieht es so aus, als wäre die Entzündung schon vom Finger in die Hand gegangen.«
»Torg versteht sein Geschäft«, antwortete Kyle. »Niemand kann alles vorhersehen.«
Gantry sah seinen Kapitän gleichmütig an, und seine Stimme war ruhig, als er antwortete. »Aber Torg hat einen gemeinen Zug an sich, und der kommt am deutlichsten zum Vorschein, wenn er
Weitere Kostenlose Bücher