Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
durch seine üblen Worte bestimmt Unglück bringen würde. Kyle schien nicht zu wissen, dass sie den Schlag, mit dem er Wintrow niederstreckte, genauso fühlte, als habe er sie geschlagen. Natürlich machte auch er sich keine Gedanken darüber, ob Gewalt der richtige Weg war, Wintrow zu helfen, ihr freundlichere Gefühle entgegenzubringen.
Stattdessen bürdete Kyle dem Jungen die Arbeiten auf, die er am meisten hasste. Sie blieb allein zurück und dachte über die giftigen Worte des Jungen nach und fragte sich, ob sie nicht vielleicht vollkommen der Wahrheit entsprachen.
Der Junge brachte sie zum Nachdenken. Er ließ sie über Dinge nachdenken, an die kein Vestrit jemals gedacht hatte, der über ihre Planken gegangen war. Sein halbes Leben schien er damit zu verbringen, darüber nachzudenken, wie sein Leben in Beziehung zu dem der anderen aussah. Sie wusste von Sa, denn alle anderen Vestrits hatten ihn auf irgendeine oberflächliche Weise verehrt. Aber keiner von ihnen hatte über diese Gottheit nachgedacht. Keiner von ihnen hatte so fest daran geglaubt, dass Güte und Ehre in jedem Menschen existierten, und keiner hatte die Vorstellung vertreten, dass jedes Wesen ein bestimmtes Schicksal zu erfüllen hatte. Oder geglaubt, dass es ein Bedürfnis in der Welt gab, das nur ein richtig gelebtes Leben erfüllen konnte. Infolgedessen war auch keiner von ihnen so bitterlich enttäuscht gewesen wie Wintrow, wenn er sich den täglichen Händeln mit seinen Kameraden ausgesetzt sah.
»Ich glaube, sie müssen mir den Finger abnehmen.«
Er sprach leise und zögernd, als fürchte er, diese Sorge allein dadurch Wirklichkeit werden zu lassen, dass er sie aussprach.
Viviace schwieg. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass Wintrow von sich aus ein Gespräch begann. Sie erkannte plötzlich die Angst, die sich hinter seinen barschen Worten verbarg.
»Ich glaube, er ist nicht nur gebrochen. Vermutlich ist das Gelenk zerschmettert.«
Es waren schlichte Worte, aber sie fühlte, wie kalte Furcht dahinter kauerte. Er holte tief Luft und stellte sich der Realität, die er zu leugnen versucht hatte. »Ich glaube, ich wusste es, seit es geschehen ist. Aber ich habe trotzdem gehofft… Doch meine ganze Hand schwillt seit heute morgen an. Und es fühlt sich in den Bandagen nass an.«
Kläglich fuhr er fort: »Es ist so dumm. Da habe ich mich früher um die Verletzungen der anderen gekümmert. Nicht als Heiler, aber ich wusste, wie man eine Wunde säubert und einen Verband wechselt. Doch jetzt, bei meiner eigenen Hand… Ich habe nicht den Mut aufgebracht, sie mir seit gestern Abend anzusehen.«
Er hielt inne, und sie hörte, wie er schluckte.
»Ist das nicht merkwürdig?«
Seine Stimme klang angespannt.
»Ich war dabei, als Sa’Garit einem Mann das Bein amputiert hat.
Es war notwendig. Für uns alle war das offensichtlich, aber der Mann flehte: ›Nein, nein, lasst uns noch ein bisschen warten, vielleicht wird es besser‹. Dabei konnten wir alle sehen, wie es sich Stunde um Stunde verschlimmerte. Schließlich hat seine Frau ihn überredet, uns unsere Arbeit tun zu lassen. Damals habe ich mich gefragt, was ihn wohl daran festhalten lässt, statt dass er einfach mit der Sache zu Ende kommt. Warum klammerte er sich an ein verrottendes Stück Fleisch, nur weil es früher einmal ein nützliches Körperteil gewesen war?«
Er verstummte und beugte sich über seine Hand. Jetzt konnte sie den pochenden Schmerz spüren, das Klopfen in seiner Hand, das jeden Schlag seines Herzens wiederholte.
»Habe ich jemals zuvor meine Hände betrachtet? Wirklich über sie nachgedacht? Die Hände eines Priesters… Man hört immer nur von ihnen. Mein ganzes Leben lang hatte ich perfekte Hände. Zehn Finger, und alle funktionierten flink…
Ich habe Glasmalereien für Fenster geschaffen, wusstest du das, Viviace?
Ich habe dagesessen und mich vollkommen in meine Arbeit vertieft… Meine Hände haben sich beinahe von allein bewegt.
Und jetzt…«
Er schwieg. Jetzt wagte es Viviace zu antworten. »Viele Seeleute verlieren Finger. Oder ganze Gliedmaßen. Trotzdem sind diese Seeleute noch…«
»Ich bin kein Seemann. Ich bin Priester. Ich sollte ein Priester werden! Bis mein Vater mich zu dem hier verdammt hat! Er zerstört mich. Er versucht vorsätzlich, mich zu vernichten. Er und seine Männer verspotten meinen Glauben, und wenn ich versuche, an meinen Idealen festzuhalten, wenden sie sich gegen mich. Ich halte das nicht mehr aus, was er mir antut,
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