Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen
Nasenflügeln und den zusammengepressten Lippen deutlich abzulesen. Sie hatte offensichtlich gehofft, Cerwin Trell allein zu erwischen oder zumindest nur in Begleitung seiner Schwester. Wozu?
Vermutlich wusste das Mädchen es selber nicht.
Wahrscheinlich war das auch das Erschreckendste daran: dass Malta so aggressiv vorging und dabei so wenig die Konsequenzen bedachte.
Ronica fragte sich unwillkürlich, wessen Fehler das war, als sie den beiden Mädchen hinterhersah. Die Kinder waren in ihrem Haus aufgewachsen. Sie hatte sie oft gesehen, bei Tisch, im Garten. Und dennoch waren es immer Kinder gewesen. Nicht die Erwachsenen von morgen, keine kleinen Leute, die auf das hinwuchsen, was sie eines Tages werden würden. Seiden. Wo war Seiden in dem Moment, und was tat er? Vermutlich war er bei Nana oder seinem Lehrer, wurde unterrichtet und war in Sicherheit. Aber mehr wusste sie auch nicht von ihm. Einen Augenblick spürte sie Panik in sich aufsteigen. Sie hatte so wenig Zeit. Vielleicht war es jetzt schon zu spät, sie noch zu formen. Sieh doch nur deine eigenen Töchter an, dachte sie.
Keffria, die immer jemanden suchte, der ihr sagte, was sie tun sollte. Und Althea, die nur danach verlangte, dass alles nach ihrem Willen ging.
Ronica dachte an die Zahlen in ihrem Kontobuch, die kein Willensakt mehr ändern konnte. Sie dachte an die Summe, die sie den Festrews aus der Regenwildnis schuldete. Blut oder Gold, die Schuld wird geschuldet. Doch plötzlich veränderte sie ihre Perspektive. War es ihr Problem? Es war Seidens und Maltas Problem, denn waren sie nicht das Blut, das vielleicht die Schuld bezahlen musste? Und sie hatte ihnen nichts beigebracht. Gar nichts.
»Mistress? Geht es Euch gut?«
Sie schaute Rache an. Die Frau war eingetreten und hatte das Kaffeegeschirr auf das Tablett geräumt. Dann war sie zu ihrer Herrin getreten, die mit glasigem Blick in die Ferne starrte.
Diese Frau, eine Dienstbotensklavin in ihrem eigenen Haus, hatte sie mit der Erziehung ihrer Enkelin betraut. Eine Frau, die sie kaum kannte. Was lehrte Malta allein ihre Gegenwart in diesem Haus? Dass Sklaverei akzeptiert wurde. War es das, was auf sie zukam?
Was sagte das Malta über die Bedeutung, eine Frau in der Gesellschaft von Bingtown zu sein?
»Setz dich«, hörte sie sich zu Rache sagen. »Wir müssen uns unterhalten. Über meine Enkelin. Und über dich.«
»Jamaillia«, sagte Viviace leise.
Das Wort weckte ihn, und er hob den Kopf von den Planken des Decks, wo er in dem Licht der Wintersonne geschlafen hatte.
Es war ein klarer Tag, weder kühl noch warm, und es wehte nur ein schwacher Wind. Es war die Stunde am Nachmittag, die dafür bestimmt war, »sich um das Schiff zu kümmern«, wie sein Vater es so ignorant ausdrückte. Er hatte auf dem Vordeck gesessen und seine Hose geflickt, während er sich ruhig mit der Galionsfigur unterhielt. Er konnte sich nicht erinnern, dass er eingeschlafen war.
»Entschuldigung«, meinte er und rieb sich die Augen.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte das Schiff. »Ich wünschte, dass ich auch wie die Menschen richtig schlafen könnte und die Sorgen des Tages vergessen würde. Dass dies wenigstens einer von uns kann, ist ein Segen für uns beide.
Ich habe dich nur geweckt, weil ich dachte, dass du dies hier gern sehen würdest. Dein Großvater meinte immer, es wäre der schönste Blick auf die Stadt, hier draußen, wo man ihre Fehler nicht sehen kann. Da sind sie. Die weißen Türme von Jamaillia-Stadt.«
Er stand auf, streckte sich und starrte auf das blaue Meer hinaus. Die beiden Festlandzungen schienen das Schiff wie zur Begrüßung zu umschlingen. Die Stadt erstreckte sich von der dampfenden Mündung des Warmen Flusses bis zu dem hohen Gipfel des Satrapenberges. Entzückende Anwesen und künstliche Parks wurden von kleinen Baumreihen getrennt. Auf einem Kamm hinter der Stadt erhoben sich die Türme des Hofes des Satrapen. Diese sogenannte »Oberstadt« war das Herz von Jamaillia-Stadt. Die Hauptstadt war das Zentrum der Zivilisation, die Wiege allen Wissens und aller Künste und funkelte im Licht der Nachmittagssonne. Sie glänzte grün, golden und weiß – wie ein Juwel in seiner Fassung. Ihre weißen Türme erhoben sich höher als jeder Baum. Sie waren so strahlend weiß, dass Wintrow die Augen zusammenkneifen musste, als er sie ansah. Die Türme waren mit Gold umringt, und die Grundmauern dieser Gebäude bestanden aus prachtvollem grünen Marmor aus Saden. Eine
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