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Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen

Titel: Zauberschiffe 02 - Viviaces Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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Weile sog Wintrow den Anblick gierig in sich auf, als er zum ersten Mal sah, wovon er so oft gehört hatte.
    Vor etwas mehr als fünfhundert Jahren war Jamaillia-Stadt bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Der damalige Satrap hatte entschieden, dass seine königliche Stadt prächtiger wiederaufgebaut werden sollte als je zuvor. Alle Gebäude sollten aus Stein sein, damit eine solche Katastrophe nicht noch einmal passieren konnte. Er rief seine besten Architekten, Künstler und Steinmetze zusammen, und mit ihrer Hilfe und in dreißigjähriger Arbeit wurde der Hof des Satrapen errichtet.
    Der zweithöchste Turm war der des Satrapenpalastes. Es gab nur einen, der sich noch höher in den Himmel reckte. Der Turm des Tempels, den der Satrap Sa errichtet hatte. Dort beteten der Satrap und seine Gefährtinnen. Eine Weile betrachtete Wintrow ihn, staunend und bewundernd. In diesem Kloster zu dienen, das dem Tempel angeschlossen war, bedeutete für einen Priester des Sa die höchstmögliche Ehre.
    Die Bibliothek allein füllte siebzehn Räume, und es gab drei Schreibstuben, in denen Priester permanent damit beschäftigt waren, die Schriftrollen und Bücher zu erneuern oder zu kopieren. Wintrow stellte sich das angehäufte Wissen vor und versank in Bewunderung.
    Dann jedoch legte sich ein bitterer Schatten auf seine Seele. So hatte auch Cress gewirkt, schön und strahlend, aber es war trotzdem eine Stadt voller raffgieriger Menschen gewesen. Er wandte Jamaillia-Stadt den Rücken zu und ließ sich an der Reling herunterrutschen, bis er auf dem Deck saß. »Es ist ein Trick«, bemerkte er. »Alles nur ein übler Trick. Die Menschen kommen zusammen, schaffen etwas Wunderschönes, treten zurück und sagen: ›Seht doch, wir haben Seele und Einsicht, Heiligkeit und Freude. Wir stecken das alles in diese Gebäude, damit wir uns nicht in unserem täglichen Leben damit herumschlagen müssen. Wir können so dumm und brutal leben, wie wir wollen, und jede Neigung zu Spiritualität oder Mystizismus zertreten, die wir in unseren Mitmenschen oder uns selbst erkennen. Wenn wir das alles erst einmal in Stein geformt haben, brauchen wir uns nicht mehr darum zu kümmern.‹ Es ist nur ein Trick. Noch eine Art und Weise, sich selbst zu betrügen.«
    Viviace antwortete leise. Hätte er gestanden, dann wären ihm die Worte vielleicht entgangen. Aber er saß, die Handflächen auf das Deck gestützt, und so drangen sie bis in seine Seele.
    »Vielleicht sind ja die Menschen nur ein Trick, den Sa der Welt spielt. ›Alle anderen Dinge, die ich gemacht habe, sind gewaltig, wunderschön und wahrhaftig‹, hat er vielleicht gesagt. ›Allein die Menschen sind des Erbärmlichen, des Gemeinen und des Selbstzerstörerischen fähig.‹ Glaubst du, dass Sa so etwas tun kann?«
    »Das ist Blasphemie«, erwiderte Wintrow heftig.
    »Ach wirklich? Wie erklärst du es dann? All die Hässlichkeiten und Gemeinheiten, die zum Menschsein gehören, woher kommen die?«
    »Sie kommen nicht von Sa. Sondern weil Sa ignoriert wird. Von der Trennung von Sa. Immer wieder habe ich gesehen, wie Kinder zu dem Kloster gebracht wurden, Jungen und Mädchen, die keine Ahnung hatten, warum sie hier waren. Viele waren wütend und verängstigt, weil sie schon in so jungen Jahren von daheim weggeschickt worden waren. Innerhalb einiger Wochen sind sie aufgeblüht, haben sich Sas Licht und Ruhm geöffnet.
    In jedem einzelnen Kind findet sich wenigstens ein Funke davon. Nicht alle bleiben. Einige werden nach Hause geschickt, denn nicht alle sind für ein Leben im Dienste Sas geeignet. Aber sie alle sind dafür geschaffen, Geschöpfe des Lichts und der Liebe zu sein. Sie alle.«
    »Hm«, meinte das Schiff nachdenklich. »Wintrow, es ist gut, dich wieder so sprechen zu hören.«
    Er lächelte und rieb an dem Knoten weißer Haut, wo einst sein Finger gewesen war. Es wurde zur Gewohnheit, eine kleine Gewohnheit, die ihn immer ärgerte, wenn er sich ihrer bewusst wurde. So wie jetzt. Er faltete abrupt die Hände und fragte:
    »Bemitleide ich mich so sehr? Ist das für alle so offensichtlich?«
    »Vermutlich nehme ich es genauer wahr als jeder andere.
    Trotzdem. Es ist nett, dich ab und zu herauszureißen.«
    Viviace hielt inne. »Willst du an Land gehen? Was glaubst du?«
    »Das bezweifle ich.«
    Wintrow versuchte, nicht zu sehr zu schmollen. »Ich war nicht mehr an Land, seit ich meinen Vater in Cress ›beschämt‹ habe.«
    »Ich weiß«, antwortete das Schiff überflüssigerweise. »Aber,

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