Zauberschiffe 03 - Der Blinde Krieger
hervorgebracht wird und sich schnell vom wahren Guten zu eitler Selbstzufriedenheit wandelt. Sollen wir uns von dem Elend in diesen Frachträumen abwenden und sagen: »Nun, wir sind alle freie Männer hier. Das ist das Beste, was wir machen können, und sie müssen eben selbst sehen, wie sie zurechtkommen? Das hat man dich in deinem Kloster doch sicher nicht gelehrt.«
»Das habe ich auch nicht gemeint!«, erwiderte Wintrow gereizt. »Das Gute erträgt das Böse wie ein Stein den Regen. Es toleriert das Böse nicht, sondern…«
»Ich glaube, es ist vorbei«, unterbrach ihn Kennit. Leichen wurden über die Seite der Brummbär geworfen. Und keine Seeschlangen tauchten auf, um sie zu fressen. Das Schiff war schnell und sauber und hatte diese Biester niemals angezogen. Die Flagge der Brummbär wurde eingeholt, und eine rotschwarze Rabenflagge flatterte alsbald im Wind. Die Luken wurden geöffnet, und die Sklaven strömten langsam an Deck. Kennit warf einen Blick über seine Schulter. »Etta, mach die Gig bereit. Ich möchte unseren Fang selbst inspizieren.« Er drehte sich zu Wintrow um. »Hast du Lust mitzukommen, Junge? Es wäre vielleicht interessant für dich, die Dankbarkeit der Leute zu erleben, die wir gerettet haben. Vielleicht ändert das ja deine Einstellung zu dem, was wir tun.«
Wintrow schüttelte langsam den Kopf.
Kennit lachte. Dann änderte sich sein Tonfall. »Du kommst trotzdem mit, und zwar schnell. Trödel nicht. Ich werde dich auch gegen deinen Willen bilden.«
Wintrow vermutete insgeheim, dass die wahre Absicht des Piraten war, ihn nicht mit Viviace allein zu lassen, damit sie nicht über das reden konnten, was sie gerade eben erlebt hatten. Kennit wollte, dass sie über seinen Kommentar zur Kaperung der Brummbär nachdachte. Wintrow biss die Zähne zusammen, aber er gehorchte der Aufforderung des Piraten. Er konnte es ertragen. Doch als Kennit seinen Arm um die Schultern des Jungen schlang, erschrak er. Die Stimme des Kapitäns klang liebenswürdig. »Lerne, vornehm zu verlieren, Wintrow Denn du verlierst nicht wirklich. Du gewinnst, was ich dir beibringen kann.« Kennit grinste, als er ihm versicherte: »Ich habe dir eine Menge beizubringen.«
Als sie in dem Boot saßen, das sie zur Brummbär brachte, beugte sich Kennit vor. »Selbst ein Stein wird schließlich vom Regen ausgewaschen, mein Junge«, flüsterte er. »Daran kann man dem Stein keine Schuld geben.« Er klopfte ihm liebenswürdig auf die Schulter und setzte sich dann gerade hin. Er strahlte zufrieden, als er seine Beute über das gleißende Wasser hinweg betrachtete.
Der böige Wind trug Althea die zerrissene Melodie einer Flöte zu, als sie durch die Wälder hinter ihrem Haus eilte und dann die Klippen hinunterkletterte. Sie hatte versprochen, Brashen und Amber gegen Mittag an dem Schiff zu treffen. Sie wollten ihm die Nachrichten gemeinsam überbringen. Ihr Magen kribbelte vor Unruhe, als sie darüber nachdachte, wie Paragon wohl reagieren würde. Die Töne, die an ihr Ohr drangen, waren wohl gar keine richtige Melodie. Es klang eher wie ein Versuch, Musik zu machen. Vermutlich spielte ein Kind am Strand.
Doch die tiefen Töne hätten sie eigentlich auf den Anblick vorbereiten müssen, der sie erwartete. Die blinde Galionsfigur spielte auf einer überdimensionalen Schäferflöte. Der selbstvergessene Ausdruck auf Paragons Gesicht verwandelte ihn. Seine Stirn war glatt, und seine Schultern waren nicht mehr so abwehrend zusammengezogen. Er wirkte wie ein völlig anderes Geschöpf, gar nicht wie das unheimliche und misstrauische Schiff, mit dem sie schon so lange befreundet war. Einen Augenblick war sie eifersüchtig, dass es Amber gelungen war, eine solche Veränderung bei ihm zu bewirken.
Die übergroße Flöte war offensichtlich Ambers Werk. Althea schüttelte den Kopf, als sie plötzlich diesen Mangel in sich selbst feststellte. In all den Jahren, die sie Paragon jetzt schon kannte, hatte sie niemals daran gedacht, ihm die Art Geschenke zu geben, die Amber ihm machte. Die Perlenmacherin gab ihm Spielzeug und Tand, Dinge, mit denen er seine Hände und seinen Verstand beschäftigen konnte. Althea war schon seit Jahren seine Freundin, aber sie hatte in ihm niemals etwas anderes als ein gescheitertes Lebensschiff gesehen. Sie mochte ihn und betrachtete ihn als eine Person, nicht als ein Ding. Trotzdem hatte sich ihr Bild von ihm niemals verändert. Er war ein Schiff, das das Vertrauen enttäuscht hatte, welches man in es
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