Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
niemals!«, rief sie verzweifelt. Eine Welle traf sie mitten ins Gesicht, und einen Moment schnappte sie hilflos nach Luft. Als sie wieder sehen konnte, lag der Strand vor ihr. »Hier entlang, Kennit! Hier lang! Da ist der Strand!«
»Nein«, widersprach er. Seine Miene verriet ungläubige Freude. »Das Schiff ist da drüben. Viviace! Hierher! Wir sind hier!«
Müde drehte Etta den Kopf. Das Lebensschiff kam durch den strömenden Regen auf sie zugesegelt. Sie sah, wie die Matrosen an Deck hastig ein Rettungsboot zu Wasser ließen. »Sie erreichen uns niemals rechtzeitig«, jammerte Etta.
»Vertrau dem Glück, Liebes. Vertrau dem Glück!«, tadelte Kennit sie. Mit seiner freien Hand begann er entschlossen, auf das Schiff zuzupaddeln.
Er bemerkte seine Rettung wie durch einen Nebel. Und es ärgerte ihn ungeheuerlich. Er war so lebendig, so voller Erinnerungen und sinnlicher Erfahrungen, dass er einfach nur gern still gelegen und sie in Ruhe aufgenommen hätte. Stattdessen hörten sie nicht auf, an ihm herumzuzerren. Die Frau schüttelte ihn die ganze Zeit und forderte ihn schreiend auf, wach zu bleiben, bloß wach zu bleiben. Und dann war da auch noch eine Männerstimme. Er schrie die Frau an, ja sein Gesicht über Wasser zu halten, es hoch zu halten. Er ertrinkt, siehst du das nicht? Wintrow wünschte sich, sie würden beide den Mund halten und ihn in Ruhe lassen.
Er konnte sich an so viel erinnern. Er erinnerte sich an seine Bestimmung, genauso wie an all die Leben, die er vor diesem gelebt hatte. Plötzlich war alles so klar. Er war ausgebrütet worden, um die Erinnerung aller Seeschlangen aufzubewahren. Er würde sie bis zu der Zeit bewahren, da sie alle bereit waren, zu ihm zu kommen und mit einer Berührung ihr rechtmäßiges Erbe anzutreten. Er war derjenige, der sie nach Hause führen würde, an die Stelle weit oben am Fluss, wo sie sowohl Sicherheit als auch die besondere Erde finden würden, aus denen sie ihre Kokons formen konnten. Es würden Führer am Fluss auf sie warten, die sie auf ihrer Reise flussaufwärts beschützen und Wache hielten, während sie ihre Metamorphose durchliefen. Es war so lange her, aber jetzt war er frei, und alles würde gut werden.
»Nehmt Wintrow zuerst. Er ist bewusstlos.«
Das war die Stimme eines Mannes. Sie klang erschöpft, aber dennoch gebieterisch. Dann schrie eine andere Stimme: »Bei Sa! Da ist eine Seeschlange! Direkt unter ihnen! Schnell, holt sie an Bord, schnell, schnell!«
»Sie hat ihn gestreift. Holt den Jungen rein. Schnell!«
Einen Moment herrschte Verwirrung und dann Schmerz. Sein Körper hatte vergessen, wie man sich beugt, dafür war er zu geschwollen. Sie bogen ihn trotzdem, packten ihn fest, als sie ihn von der Fülle in die Leere hievten. Sie legten ihn auf etwas Hartes, Unebenes. Er lag da, keuchte und hoffte, dass seine Kiemen nicht austrockneten, bevor er wieder entkommen konnte.
»Was ist das für ein Zeug an ihm? Es hat meine Hände verbrannt!«
»Wascht ihn. Macht das Zeug von ihm ab«, empfahl jemand.
»Ich glaube nicht, dass er so lange aushält. Wischt es wenigstens von seinem Gesicht.«
Jemand rieb an seinem Gesicht. Es tat weh. Er riss sein Maul auf und wollte sie anbrüllen. Er befahl seinen Giften, auszutreten, aber seine Mähne wollte sich nicht aufrichten. Es war zu schmerzhaft. Er glitt von diesem Leben in das vorherige.
Mit weit ausgebreiteten Schwingen stieg er in den Himmel empor. Es waren rote Schwingen, die vor dem blauen Himmel leuchteten. Unter ihm lagen grüne Felder, auf denen fette weiße Schafe weideten. In weiter Ferne glänzten die Türme der Stadt. Er konnte jagen, oder er konnte zur Stadt fliegen, wo er gefüttert wurde. Über der Stadt kreiste eine Gruppe von Drachen. Er konnte sich ihnen anschließen. Die Bewohner der Stadt würden herauskommen, ihn begrüßen, Lieder singen und sich freuen, dass er sie mit seinem Besuch beehrte. Es waren ja so schlichte Geschöpfe, die kaum länger lebten als einige Atemzüge. Welches Vergnügen war verlockender? Er konnte sich nicht entscheiden. Er zögerte, spürte den Wind unter den Flügeln und glitt in den Himmel empor.
»Wintrow. Wintrow. Wintrow.«
Eine Männerstimme drang in seinen Traum und zerschmetterte ihn. Er rührte sich unwillig.
»Wintrow. Er hört uns, er hat sich bewegt. Wintrow!« Eine Frauenstimme gesellte sich zu der Männerstimme hinzu.
Diese älteste Magie, die Bindung eines Menschen an seinen Namen, packte ihn. Er war Wintrow Vestrit, nur ein
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