Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
auf. Sie kniff die Augen zu und öffnete sie dann vorsichtig wieder. Verwundert starrte sie anschließend den Flur entlang.
Am Eingang waren die Wände in einem miserablen Zustand gewesen, die Friese verblichen und zerstört. Hier jedoch strahlte nicht nur der Streifen Jidzin, sondern auch die dekorativen Schmuckreliefs an den Wänden. Auf dem Boden glänzten schwarze Fliesen. Die Musik war hier lauter, und sie hörte, wie eine Frau glockenhell lachte.
Sie warf einen Blick auf ihre schlammige und verschmutzte Kleidung. Etwas Derartiges hatte sie nicht erwartet. Sie hatte gedacht, dass die Stadt verlassen wäre. Was sollte sie tun, wenn sie in ihrem jämmerlichen Zustand auf jemanden stieß? Malta lächelte. Vermutlich konnte sie sich auf ihre Kopfverletzung berufen und so tun, als wäre sie verwirrt. Wenn sie über ihr Verhalten von heute Abend nachdachte, war das auch eine nahe liegende Vermutung. Ihre nassen Röcke schlugen klatschend gegen ihre nackten Beine, während sie auf Zehenspitzen durch den Flur schlich. Sie musste an einigen Türen vorbei. Glücklicherweise waren die meisten verschlossen. Hinter den wenigen, die offen standen, lagen prächtige Räume, mit dicken Teppichen und faszinierenden Kunstwerken an den Wänden. Sie hatte solche Möbel noch nie gesehen. Sie waren mit wertvollen Stoffen bezogen und mit Quasten und Troddeln verziert. Auf den Stühlen hätte sie sich zusammenrollen und schlafen können, und es gab Tische, die mehr Podesten glichen. Bei diesen Dingen hier musste es sich um den legendären Reichtum des Regenwildvolkes handeln. Und doch hatte man ihr erzählt, dass niemand von ihnen in der Stadt lebte. Sie zuckte mit den Schultern. Vielleicht bedeutete das nur, dass sie nicht hier aßen oder schliefen. Malta ging weiter. Irgendwann beschloss sie, nicht mehr den Weg zurückzugehen, den sie gekommen war, ganz gleich, was sie erwartete. Es war ihr zuwider, noch einmal durch den nassen, schlammigen Tunnel zu kriechen. Sie würde einen anderen Ausgang suchen.
Die Musik verstummte einen Moment und kehrte dann wieder. Diesmal war es ein anderes Lied, aber auch dieses kannte sie gut. Sie summte einen Moment mit, um es sich zu beweisen. Plötzlich lief es ihr eiskalt über den Rücken. Jetzt erinnerte sie sich, wo sie diese Musik schon gehört hatte. Es war in ihrem ersten Traum gewesen, den sie mit Reyn geteilt haute. In diesem Traum war sie mit ihm durch die stille Stadt spaziert, und dann hatte er sie an einen Ort gebracht, wo Musik war, Licht und Wesen, die miteinander redeten. Die Musik war dieselbe gewesen - deshalb kam sie ihr so bekannt vor.
Trotzdem war es merkwürdig, wie gut sie sich daran erinnerte. Sie fühlte ein schwaches Mahlen unter ihren Füßen, und der Boden schien sich seitlich abzusenken. Verzweifelt hielt sie sich an der Wand fest. Sie bebte unter ihrer Hand. Ging das Beben etwa weiter? Würde die ganze Stadt über ihr zusammenbrechen? Ihr Herz hämmerte, und ihr schwindelte. Der Flur war plötzlich voller Wesen. Große, elegante Frauen mit goldfarbener Haut und unglaublichen Frisuren gingen an ihr vorbei und plauderten fröhlich in einer Sprache, die Malta einst gekannt hatte. Sie würdigten sie keines Blickes. Ihre seidenglänzenden Röcke schleiften über den Boden, aber sie waren seitlich bis hinauf zur Taille geschlitzt. Goldfarbene Haut blitzte skandalös auf. Ihre Parfüms waren süßlich und schwer.
Malta schwankte, kniff die Augen zusammen und schien plötzlich blind zu sein. Sie hatte den Kontakt zur Wand verloren. Sie schrie, als sich plötzlich die Dunkelheit um sie schloss. Es war still und muffig im Flur. Weit entfernt hörte sie ein Geräusch, als würden Kieselsteine ausgeschüttet. Sie trottete zur Wand und stützte sich dagegen. Plötzlich flammte das Licht auf. Der Flur war vollkommen verlassen. Sie hatte sich das alles nur eingebildet. Mit den Fingern berührte sie die Wunde an ihrer Stirn. Sie hätte dies hier gar nicht erst beginnen sollen.
Es war zu viel für sie. Am besten suchte sie schnell einen Weg nach draußen, ging zurück in ihre Kammer und in ihr Bett. Wenn sie unterwegs jemandem begegnete, brauchte sie gar nicht so zu tun, als würde sie fantasieren. Malta hatte jetzt ernsthafte Sorge, dass dem tatsächlich so war.
Sie schritt entschlossen weiter und fuhr dabei mit den Fingern über den Streifen. Sie hielt sich nicht mehr an Ecken auf und spähte auch nicht mehr neugierig in irgendwelche Räume. Sie eilte durch das Labyrinth aus Fluren
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