Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
»Ich kann nicht schlafen. Oder vielmehr, ich fürchte mich davor einzuschlafen. Ich beginne noch heute Abend damit, Mutter. Vielleicht kann ich dir schon morgen früh Ergebnisse vorlegen.«
»Überanstrenge dich nicht«, sagte sie, aber er sammelte bereits die Pergamente ein und ging. Jani wartete, bis er zur Tür hinaus war, und trat dann hastig Bendir in den Weg, der ebenfalls gehen wollte. »Warte«, befahl sie.
»Auf was?«, wollte er gereizt wissen.
»Darauf, dass Reyn außer Hörweite ist«, erwiderte sie unverblümt. Damit erregte sie seine Aufmerksamkeit. Er sah sie schockiert an.
Sie wartete einige Minuten. Dann holte sie tief Luft. »Der Drachenstamm, Bendir. Wir müssen ihn loswerden, und zwar schnell. Zersäge ihn. Wahrscheinlich hast du Recht: Vielleicht wird es Zeit, dass der Khuprus-Clan sein eigenes Lebensschiff baut. Oder lass den Stamm in Planken zersägen und verstaue das Holz. Vor allem schaff das Ding weg, das sich darin befindet. Sonst, so fürchte ich, werden wir deinen Bruder verlieren. Denn der Stamm, nicht Malta, ist die Ursache der Probleme, die dein Bruder macht. Er bedrückt seinen Geist.«
Sie holte tief Luft. »Ich fürchte, er wird in Erinnerungen ertränkt. Er wandelt bereits dicht am Abgrund entlang. Wir sollten ihn so gut wie möglich von der Stadt fern halten.«
Bendirs Miene änderte sich. Er wirkte beunruhigt, was Jani tröstete. Seine Sorge um seinen jüngeren Bruder war nicht gestellt. Die Tiefe seiner Gefühle zeigte sich auch in seiner nächsten Frage. »Jetzt? Meinst du, ich soll den Stamm zersägen, bevor Reyn zu diesem Sommerball nach Bingtown fährt? Ich halte das für keine kluge Entscheidung, Mutter. Es spielt keine Rolle, dass er auf sein Mitspracherecht verzichtet hat, was den Stamm betrifft. Er sollte diesen Ball genießen können, was nicht geschehen wird, wenn er von Zweifeln verfolgt wird.«
»Du hast Recht. Warte, bis er fort ist. Ich nehme an, dass er mindestens eine Woche in Bingtown verbringen wird. Das ist der richtige Zeitpunkt. Wenn er nach Hause kommt, soll alles getan und unwiderruflich sein. So ist es am besten.«
»Du weißt, dass er mir dafür die Schuld geben wird.« Ein Schatten fiel auf Bendirs Gesicht. »Das wird unser Verhältnis nicht einfacher machen.«
»Nein. Er wird mir die Schuld geben«, versicherte ihm seine Mutter. »Dafür werde ich sorgen.«
Es war Nacht geworden im Hafen. Paragon spürte es. Der Wind hatte sich gedreht. Jetzt trug er die Gerüche der Stadt mit sich. Paragon berührte seine Nase. Vorsichtig glitt er mit den Fingern höher, betastete die zersplitterten Höhlen, die einmal seine Augen gewesen waren.
»Hast du Schmerzen?«, fragte Amber ihn ruhig.
Sofort ließ er die Hände von seinem Gesicht sinken. »Wir erleben Schmerzen nicht so wie ihr Menschen«, versicherte er ihr. »Erzähl mir von der Stadt. Was siehst du?«, forderte er sie einen Moment später auf.
»Oh. Na gut.« Er fühlte, wie sie sich auf dem Vordeck herumdrehte. Sie hatte auf dem Rücken gelegen und gedöst oder zu den Sternen hinaufgesehen. Jetzt rollte sie sich auf den Bauch. Ihr Körper wärmte seine Planken. »Um uns herum ist ein Wald aus Masten. Es sieht wie eine Phalanx schwarzer Stäbe aus. An einigen Schiffen schimmern kleine Lampen, aber es sind nur wenige. In der Stadt dagegen brennen viele Lichter. Sie spiegeln sich im Wasser und.«
»Ich wünschte, ich könnte sie sehen«, sagte Paragon nachdenklich. »Ich wünschte, ich könnte überhaupt etwas sehen«, beschwerte er sich dann lauter. »Irgendetwas! Es ist alles dunkel, Amber. Es war schon schlimm genug, blind am Strand zu liegen. Nach einer Weile habe ich mich allerdings daran gewöhnt. Aber hier, im Wasser. Ich weiß nicht, wer auf der Pier an mir vorübergeht oder welche Schiffe neben mir anlegen. Im Hafen könnte Feuer ausbrechen, und ich würde es erst merken, wenn es zu spät ist. All das ist schon schlimm genug, aber jetzt stechen wir auch noch in See. Wie kannst du erwarten, das ich blind in diese ungeheure Weite hinausfahre? Ich will meine Sache gut machen. Wirklich. Aber ich fürchte, ich kann es nicht.«
Als Amber antwortete, spürte er ihre Hilflosigkeit. »Du musst uns vertrauen, Paragon. Wir sind deine Augen. Wenn wir in Gefahr geraten, werde ich hier neben dir stehen und dir alles schildern, was uns erwartet, das schwöre ich dir.«
»Ein schwacher Trost«, antwortete Paragon nach einer Weile. »Das ist leider nur ein schwacher Trost.«
»Ich weiß. Aber mehr
Weitere Kostenlose Bücher