Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
Ronica nahm ihn. Sie trugen alle ihre besten Sommerkleider. Großmutter hatte darauf bestanden. »Wir können es uns nicht leisten, an diesem Tag arm auszusehen!« Ihre Worte hatten irgendwie trotzig geklungen. Also hatten sie die Stoffe alter Kleider genommen, gewaschen, gewendet und gepresst, um daraus neue Gewänder zu nähen. Rache entwickelte sich allmählich zu einer richtigen Schneiderin. Malta musste zugeben, dass sie ein gutes Auge dafür hatte, die neueste Mode auf den Straßen Bingtowns zu kopieren. Heute wirkten sie fast modisch, bis auf die Sonnenschirme, die noch vom letzten Jahr stammten. Selbst Selden trug eine ordentliche blaue Hose und ein weißes Hemd. Er zerrte an seinem Kragen. Malta sah ihn streng an und schüttelte den Kopf. »Ein ordentlicher Händlerjunge zieht nicht an seinem Kragen«, erklärte sie.
Er ließ die Hand sinken, erwiderte jedoch ihren Blick ebenso finster. »Ein ordentlicher kleiner Händlerjunge zu sein, erstickt mich«, erwiderte er schnippisch.
»Gewöhn dich dran«, riet sie ihm und nahm ihn an die Hand.
Es war warm, ein mildes Lüftchen wehte, und im Hafen von Bingtown ging es so geschäftig zu wie immer. Ihre Mutter folgte ihrer Großmutter, dahinter Malta mit Selden im Schlepptau. Natürlich durfte sie sich nichts anmerken lassen, aber es tat ihr trotzdem gut zu sehen, wie die Seeleute hinter ihr herstarrten. Einige machten anerkennende, wenn auch höchst unschickliche Bemerkungen. Sie hielt den Kopf hoch und ging unbeirrt und zügig weiter. Plötzlich durchzuckte sie der brennende Wunsch, ein Mädchen von den Drei-Schiffe- Immigranten zu sein. Dann hätte sie blinzeln und flirten können, und niemand wäre der Meinung, sie hätte eine schlechte Wahl getroffen, wenn sie das Herz eines kräftigen jungen Seemanns eroberte. Wenn sie schon so einfach wie ein Fischermädchen leben musste, warum durfte sie sich dann nicht auch genauso sorglos benehmen?
Ihre Großmutter ging langsamer, als sie den Nordwall erreichten. Während sie an der Pier entlangmarschierten, grüßte sie jedes Zauberschiff mit Namen. Die erwiderten ausnahmslos die Grüße und fügten gute Wünsche für den Paragon und seinen Törn hinzu. Manche sprachen diese Worte nur formal aus, doch bei einigen glaubte Malta echte Herzlichkeit herauszuhören. Ronica Vestrit dankte jedem Schiff, bevor sie weiterging.
Als sie schließlich den Paragon erreichten, wurde Malta von der Stärke ihrer Gefühle überrascht. Dort lag er, das blinde Schiff, das verrückte Schiff, das ihre Familie unter so großen finanziellen Entbehrungen wieder flottgemacht hatte. Er schaukelte leicht an der Pier. Sein Messing glänzte und sein Holz schimmerte. Er sah aus wie neu. Seine Arme hatte er vor der muskulösen Brust gekreuzt, den Kiefer entschlossen zusammengepresst und das Kinn vorgestreckt. Er ähnelte überhaupt nicht mehr dem alten Wrack, das sie noch vor wenigen Wochen von den Klippen aus gesehen hatte. Selden packte ihre Hand fester.
Ihre Großmutter blieb stehen und betrachtete die Galionsfigur. Dann hob sie die Stimme. »Einen guten Tag wünsche ich, Paragon! Es ist ein schöner Tag, um eine Reise zu beginnen.«
»Guten Tag, Mistress Vestrit.« Er grinste plötzlich. »Ich bin blind, nicht taub. Ihr braucht nicht so zu schreien.«
»Paragon!«, tadelte ihn Brashen. Er war plötzlich auf dem Vordeck aufgetaucht. Althea kam ihnen über die Pier entgegen.
»Schon gut, Kapitän Trell. Das Schiff hat ja Recht.« Ronica Vestrit wollte sich nicht beleidigen lassen. »Aber ich sage gern noch einmal, dass es ein entzückender Tag ist, um eine Reise zu beginnen.«
Es folgte ein Austausch von Nettigkeiten zwischen Brashen, dem Schiff und ihrer Großmutter. Malta achtete nicht sonderlich darauf. Sie war froh, dass das Schiff weder jammerte noch wütete. Sie hatte befürchtet, dass Paragon ausgerechnet heute einen seiner Wutanfälle haben könnte, Dinge durch die Luft schleuderte und herumbrüllte. Sie hatte ihn einmal so erlebt, als sie an den Strand gegangen waren, um sich von den Fortschritten zu überzeugen. Es hatte sie so eingeschüchtert, dass sie sich sofort umgedreht hatte und nach Hause gegangen war.
Malta konzentrierte sich hauptsächlich auf Althea und Brashen Trell. Sie vermutete immer noch, dass zwischen den beiden etwas vorging, aber heute konnte sie kein Anzeichen dafür entdecken. Brashen war ganz und gar Kapitän Trell. Seine Kleidung war sauber, sein weißes Hemd und seine blaue Hose waren ordentlich gebügelt.
Weitere Kostenlose Bücher