Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
sieht die aus?« Malta hatte das Gefühl, als hätte sie jetzt die Oberhand in diesem Gespräch gewonnen. Doch als Amber sie wieder ansah, verpuffte dieser Eindruck sofort.
»Ihr verdient Euch Eure Zukunft selbst, Malta Vestrit.« Die Perlenmacherin neigte den Kopf. »Was schuldet Euch das Morgen?«
»Was mir das Morgen schuldet?«, wiederholte Malta atemlos.
»Das Morgen schuldet Euch die Summe des Gestern. Nicht mehr.« Amber schaute wieder aufs Meer hinaus. »Und nicht weniger. Manchmal wünschen sich die Menschen, das Morgen würde sie nicht auf Heller und Pfennig ausbezahlen.«
Malta empfand den unwiderstehlichen Drang, das Thema zu wechseln. Sie trat an die Reling und blickte zu Paragon hinunter. »Unser Schiff sieht heute sehr gut aus!«, schmeichelte sie ihm übermütig. »Du strahlst wirklich, Paragon. Wie aufgeregt du sein musst!«
So plötzlich wie eine Schlange, die angriff, drehte die Galionsfigur den Kopf und sah sie an. Ihr blieb fast das Herz stehen. Seine zerstörten Augen schienen sie auf der Stelle festzunageln. Die Farbe seines Gesichts war vollkommen natürlich, aber der zerstörte Teil bestand aus silbrigem, zersplittertem Holz. Ihre Zunge klebte am Gaumen, und sie musste sich am Geländer festhalten, um nicht auf das Deck zu sinken. Paragon lachte breit. Es war die Fratze des Wahnsinns.
»Zu spät für sie«, flüsterte er. Malta wusste nicht, ob er mit ihr oder über sie sprach. »Zu spät für sie. Breite Schwingen schweben schon über ihr. Sie duckt sich wie das Mäuschen, über das der Schatten der Eule fällt. Ihr kleines Herz schlägt zum Zerspringen. Seht, wie sie zittert. Aber es ist zu spät. Zu spät. Sie kann sie sehen. Und sie kennt mich auch!« Er warf den Kopf zurück und lachte dröhnend. »Ich war einst ein König!« Sein triumphierender Ruf klang irgendwie ungläubig. »Ich war der Herrscher der drei Reiche. Aber Ihr habt mich zu dem hier gemacht. Eine Hülle, ein Spielzeug, ein Sklave!«
Vielleicht war es ein Blitz aus heiterem Himmel. Malta stürzte in einen dröhnenden schwarzen Abgrund. Sie taumelte lautlos durch einen endlosen finsteren Raum. Dann tauchte aus dem Nichts ein goldenes Funkeln auf. Die Umrisse waren zu groß, als dass sie hätte erkennen können, um was es sich handelte. In nur einem Augenblick kam es so nah, dass sie es nicht mehr wahrnehmen konnte. Gewaltige Klauen packten sie, umklammerten Brust und Hüfte. Sie pressten ihr die Luft aus den Lungen. Malta schlug danach, aber sie waren mit Schuppen wie aus Metall bewehrt. Sie konnte sie nicht lockern, damit sie wieder Luft bekam. Und sie wollte auch nicht zu Tode stürzen, wenn sie sie losließen. Erwähle dir einen Tod , flüsterte ein Drache. Mehr bleibt dir nicht mehr, meine hübsche Kleine. Die Wahl deines Todes.
Nein! Sie gehört mir, mir allein! Lass sie frei!
Beute gehört dem, der sie zuerst packt!
Du bist tot. Ich habe immer noch eine Chance zu leben. Ich werde nicht zulassen, dass man sie mir wegschnappt!
Schillerndes Silber schlug plötzlich gegen Gold. Berge stießen zusammen und rangen darum, sie zu besitzen. Die Krallen packten fester zu und zerrissen sie fast in zwei Teile. Ich werde sie töten, bevor ich sie dir überlasse!
Malta hatte nicht einmal genug Luft, um zu schreien. Von ihr war fast nichts mehr übrig. Die beiden waren so gewaltig, und in ihrer Welt gab es keinen Platz für sie. Sie würde erlöschen wie ein Funke.
Jemand sprach für sie. »Malta ist real. Malta existiert. Malta ist hier.« Als würde sie von diesen Worten neu gebildet, fast wie man ein Garnknäuel aufwickelt, erneuerten sich ihre Schichten allmählich. Jemand stützte sie gegen den Mahlstrom aus Kräften, der sie zu zermalmen drohte. Es war, als läge sie in warmen Händen. Sie rollte sich enger zusammen und hielt sich fest. Schließlich sprach sie für sich selbst.
»Ich bin Malta.«
»Natürlich bist du das.« Keffria sprach diese tröstenden Worte und versuchte gleichzeitig, der Panik Herr zu werden. Ihre Tochter war leichenblass. Unter den halb geöffneten Lidern sah man nur das Weiße ihrer Augen. Als sie die Unruhe auf dem Vorschiff hörten, waren Keffria und Ronica eilig hinaufgelaufen, aber sie hatten nicht erwartet, dass es sich um Malta handeln könnte. Sie war zusammengebrochen und lag jetzt halb in den Armen der Perlenmacherin, die ihren Kopf mit einer Hand stützte. Das ganze Schiff schwankte. Dafür war die Galionsfigur verantwortlich. Paragon hatte die Hände vors Gesicht geschlagen
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