Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
sonnen, sie paarten sich auf den luftigen Türmen einer exotischen Stadt. Und er war Zeuge all dessen.
Es war kein Alptraum. O nein. Es war im Gegenteil ein Traum von außerordentlicher Brillanz und Komplexität. Sie verkehrten mit Wesen, die beinahe menschlich waren und dennoch unmerklich anders. Sie waren groß, hatten lavendel- oder kupferfarbene Augen, und die Töne ihrer Haut waren anders als die von allen anderen Menschen, denen Reyn in seinem realen Leben jemals begegnet war.
Sein reales Leben. Das war das Problem. Die Träume waren viel verlockender als seine Wachstunden. Er sah die Städte der Altvorderen und war quälend dicht davor, ihre Geschichte zu begreifen. Plötzlich erkannte er den Sinn ihrer breiten Straßen und Korridore, der breiten und doch niedrigen Stufen, der Höhe der Türen und der gewaltigen Fenster. Die Größe ihrer Bauwerke sollte den Drachen entgegenkommen, mit denen sie die Stadt teilten. Er sehnte sich danach, das Innere dieser Gebäude zu betreten, den Wesen näher zu sein, wenn sie über die Märkte schlenderten oder mit ihren fröhlich bemalten Booten auf die Flüsse hinausruderten. Aber das konnte er nicht.
In dem Traum war er mit den Drachen zusammen und gehörte zu ihnen. Sie betrachteten ihre zweibeinigen Nachbarn mit toleranter Zuneigung. Aber für sie waren es keineswegs Gleichgestellte. Ihr Leben war zu kurz, und ihre Sorgen waren zu oberflächlich. Während seiner Träume teilte Reyn diese Haltung. Er war von der Drachenkultur durchtränkt, und ihre Gedanken begannen, die seinen zu färben. Und zwar nicht nur in seinen Träumen, sondern auch, wenn er wach war. Die Gefühle, die sie empfanden, waren hundertmal stärker als alles, was Reyn jemals empfunden hatte. So intensiv menschliche Leidenschaften auch sein mochten, verglichen mit der dauerhaften Hingabe eines Drachen an seinen Gefährten war es nur ein Fingerschnippen. Sie schätzten sich nicht nur jahrelang, sondern auch mehrere Leben lang.
Reyn sah die Welt mit neuen Augen. Kultivierte Felder wurden plötzlich zu einem zufälligen Flickwerk, das über das Land geworfen war. Flüsse, Hügel und Wüsten bildeten keine Hindernisse mehr. Ein Drache konnte aus einer Laune heraus überall hinfliegen, wohin ein Mensch nicht einmal in seinem ganzen Leben gelangen konnte. Die Welt, die Reyn jetzt sah, war viel größer und gleichzeitig auch viel kleiner als die, die er gekannt hatte.
Doch auch der Fluch eines solchen Traums manifestierte sich langsam. Reyn wachte unerholt auf, als hätte er überhaupt nicht geschlafen. Die Macht seines anderen Lebens lockte ihn. Er verbrachte sein menschliches Dasein in einem Nebel aus Unzufriedenheit und Ruhelosigkeit und betrachtete seine reale Existenz mit Verachtung. Der doppelte Fluch der Müdigkeit zerrte an ihm. Er sehnte sich danach, schlafen zu können, aber der Schlaf brachte ihm keine Ruhe. Dennoch wünschte er ihn sehnlichst herbei, nicht um sich zu erholen, sondern um sein ödes menschliches Leben zu verlassen und erneut in die Drachenwelt einzutauchen. Sein Leben als Mensch war zu einer endlosen Aneinanderreihung ermüdender Tage geworden. Das Einzige, was sein Herz noch anrühren konnte, waren die Gedanken an Malta. Doch selbst dabei konnte er den Fluch des Drachen nicht abschütteln. Denn in seinem Verstand glänzte Maltas Haar wie die Schuppen eines schwarzen Drachen.
Hinter all den Gedanken und Träumen, in Worten, die er fast nicht hören konnte und die doch niemals verstummten, erklang dabei unablässig das Trauern des gefangenen Drachenweibchens in der Kammer des Gekrönten Hahns. »Nicht mehr, nicht mehr. Sie sind alle vergangen und tot, all die großen Strahlenden. Und es ist deine Schuld, Reyn Khuprus. Du hast sie vernichtet, aus Feigheit und Faulheit. Es stand in deiner Macht, ihre Welt neu zu erschaffen, und du hast dem einfach den Rücken zugekehrt.«
Das war die schlimmste seiner Qualen. Dass sie glaubte, er habe es in der Hand gehabt, sie zu befreien und der Welt die echten Drachen zurückzubringen.
Dann war er an Bord des Kendry gegangen, und seine Folter wurde noch grausamer. Der Kendry war ein Lebensschiff, und die Knochen seines Leibes bestanden aus Hexenholz. Generationen zuvor hatten Reyns Vorfahren Keile in einen großen Hexenholzstamm getrieben und Planke um Planke des Holzes abgesägt und abgeschält. Ein besonders großes Stück hatten sie unversehrt gelassen, um die Galionsfigur daraus zu formen.
Das weiche, halb ausgebildete Geschöpf, das sich
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