Zauberschiffe 04 - Die Stunde des Piraten
das ist noch ein Unterschied zwischen uns.«
Reyn kratzte sich am Nacken. Bildete sich da etwa ein neues Geschwür? »Ich glaube, Ihr versucht, aus einer Tugend einen Makel zu machen, Grag. Ihr kennt Eure Pflicht und erfüllt sie auch. Es ist nicht Eure Schuld, wenn Althea das nicht zu schätzen weiß.«
»Das ist ja das Problem.« Er zog den kleinen Zettel aus seinem Ärmel und schob ihn wieder hinein. »Sie schätzt es ja. Dafür lobt sie mich und wünscht mir alles Gute. Und schreibt hier, dass sie mich bewundert. Welch ein armseliger Ersatz für Liebe.«
Darauf wusste Reyn nichts zu antworten.
Grag seufzte. »Es ist sinnlos, jetzt darüber nachzusinnen. Sollte es mit dem Satrapen zum Krieg kommen, dann ist es immer noch früh genug. Entweder kommt Althea zu mir zurück oder nicht. Anscheinend kann ich nur wenig in meinem eigenen Leben selbst bestimmen. Ich komme mir beinahe vor wie ein Blatt in einer Strömung.« Er schüttelte den Kopf und grinste etwas verlegen über seine melancholischen Worte. »Ich freue mich darauf, eine Weile mit Kendry zu plaudern. Kommt Ihr mit?«
»Nein.« Reyn bemerkte sofort, wie barsch seine Antwort klang, und versuchte, seine Worte abzumildern. »Ich muss ein wenig ungestört nachdenken.«
Reyn sah durch seinen Schleier Grag hinterher, wie der zu der Galionsfigur schlenderte, und schob die Hände in die Hosentaschen. Obwohl er Handschuhe trug, wollte er es nicht riskieren, sich an die Reling zu lehnen. Das ganze Schiff schrie ihn auch so schon an, und es war keineswegs »Kendry«, der da mit ihm sprach.
Reyn war schon häufig mit Zauberschiffen gereist und hatte ein solches Problem noch nie zuvor gehabt. Das Drachenweibchen musste etwas damit zu tun haben. Er wusste zwar nicht, was oder wie, aber es machte ihm Angst. Er hatte seine Abmachung mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder gebrochen und ihr einen letzten Besuch abgestattet. Das war zwar nicht richtig gewesen, aber es wäre auch falsch gewesen, sie einfach zu verlassen, ohne zu versuchen, ihr klarzumachen, dass er sein Bestes gegeben hatte. Er hatte sie angefleht, ihn ziehen zu lassen; sie musste doch gesehen haben, wie sehr er versucht hatte, ihr zu helfen. Stattdessen hatte sie geschworen, seine Seele zu verzehren. »So lange ich hier gefangen bin, Reyn Khuprus, solange wirst auch du ein Gefangener sein« , hatte sie ihn verflucht. Sie hatte sich durch seinen Verstand gewunden wie eine schwarze Ader im weißen Marmor und sich mit ihm vermischt, bis er nicht mehr wusste, wo sie aufhörte und er begann. Es verängstigte ihn mehr als alles, was sie ihm je zuvor angetan hatte. »Du gehörst mir!« , hatte sie erklärt.
Und als wollte sie ihren Worten Nachdruck verleihen, bebte plötzlich die ganze Kammer. Es war zwar nur ein leichtes Beben, ein ganz gewöhnliches Vorkommnis an den Verwunschenen Ufern. Und es war nicht einmal so stark, dass es den Namen Erdbeben verdient gehabt hätte. Aber noch nie zuvor war Reyn in der Kammer des Gekrönten Hahns gewesen, wenn ein Beben zuschlug. Im Schein der Fackel sah er, wie die bemalten Wände sich wellten, als wären es Vorhänge. Er floh, rannte um sein Leben, während ihr Gelächter in seinem Kopf widerhallte. Dem konnte er nicht entrinnen. Auf seiner Flucht hörte er, wie Flure unter dem Druck nachgaben. Das erstickende Geräusch von feuchter Erde folgte dem lauten Klappern von herabfallenden Fliesen. Selbst als er die Außenwelt erreichte und sich nach vorn beugte, die Hände auf die Knie gestützt, und nach Atem rang, hörte er nicht auf zu zittern. Morgen würde es Arbeit geben - und auch an den Tagen, die noch vor ihm lagen. Tunnel und Korridore mussten abgestützt werden. Und wenn es besonders schlimm kam, mussten sie vielleicht bestimmte Bereiche der versunkenen Stadt aufgeben. Jedenfalls mussten sie alles sehr sorgfältig überprüfen, bevor sie weitere Forschungen anstellen konnten. Es war genau die Art Arbeit, die er hasste.
»Plage dich nur« , blubberte die Stimme des Drachenweibchens fröhlich in seinem Gehirn. »Du kannst vielleicht die Wände dieser toten Stadt ab stützen, Reyn Khuprus. Aber die Wände deines Verstandes schützen dich nicht mehr vor mir oder meiner Rasse.«
Es war eine merkwürdige Drohung. Was konnte sie ihm denn noch Schlimmeres antun als das, was sie ihm schon zugefügt hatte? Doch seitdem waren seine Träume mit Drachen verseucht gewesen. Sie brüllten und kämpften gegeneinander, streckten sich auf Hausdächern aus, um sich zu
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