Zauberschiffe 05 - Die vergessene Stadt
kleiner zu sein als zuvor. Ihre Lippen waren viel zu rot. Das Leben, das sich jetzt in ihr regte, hatte eindeutig das Schillern einer Schlange an sich. Ihre Stimme war kehlig und träge. »Wenn du mich schon mit einer Geschichte langweilen musst, die tausend Jahre alt ist, dann erzähle sie wenigstens richtig.«
Kennit blieb einen Moment die Luft weg. Er wollte etwas sagen, verstummte dann aber. Sei ruhig. Bring sie zum Reden.
Sollte sie sich doch erst ihm gegenüber verraten. Der Blick der Kreatur war wie ein Messer, das man ihm an die Kehle hielt, aber er ließ sich seine Furcht nicht anmerken. Er bemühte sich, ihren Blick zu erwidern, ohne zu zittern.
»Erlida«, wiederholte sie. »Und es war kein Bauer, sondern ein Töpfer vom Fluss, mit dem sie vermählt werden sollte. Ein Mann, der den ganzen Tag damit verbrachte, feuchten Ton zu bearbeiten. Er machte schwere, plumpe Töpfe, die nur für Brühe und Nachttöpfe geeignet waren.« Sie wandte sich ab und starrte in die Schwärze hinaus. »So geht die Geschichte. Und ich muss es wissen. Ich kannte Erlida.«
Kennit wartete, bis das Schweigen so fragil war wie ein Spinnennetz. »Wie denn?«, erkundigte er sich schließlich. »Wie kannst du Erlida kennen?«
Die Galionsfigur schnaubte verächtlich. »Weil wir nicht so dumm sind wie Menschen, die alles vergessen, was ihnen vor ihrer Geburt widerfahren ist. Die Erinnerung meiner Mutter, der Mutter meiner Mutter und ihrer Mutters Mutter sind auch meine Erinnerungen. Sie wurden zu Strängen aus Erinnerungssand und dem Speichel derer geflochten, die halfen, mich in meinen Kokon einzuspinnen. Sie wurden für mich bereitgelegt, waren mein Erbe, das ich antreten sollte, sobald ich als Drache erwachte. Die Erinnerungen von hunderten Generationen sind die meinen. Und doch bin ich hier, eingesperrt in den Tod, und bestehe aus nicht mehr als nur aus sehnsüchtigen Gedanken.«
»Ich verstehe das nicht«, erwiderte Kennit steif, als klar wurde, dass sie zu Ende gesprochen hatte.
»Weil du dumm bist«, fuhr sie ihn verbittert an.
Niemand, das hatte er einst geschworen, würde jemals wieder so mit ihm reden. Er hatte anschließend stets ihr Blut von seinen Händen gewaschen. Dieses Versprechen vor sich selbst hatte er immer gehalten. Immer. Selbst jetzt. Kennit richtete sich auf. »Dumm. Du hältst mich vielleicht für dumm und kannst mich auch dumm nennen. Aber wenigstens bin ich real.
Und du nicht.« Er klemmte die Krücke unter die Schulter und tat, als wollte er gehen.
Sie drehte sich zu ihm herum und grinste spöttisch. »Aha. Also hat der Wurm doch einen kleinen Stachel. Dann bleib.
Sprich mit mir, Pirat. Du denkst, ich bin nicht real? Ich bin real genug. Genug, um jederzeit meine Fugen für das Meer zu öffnen. Daran solltest du vielleicht denken.«
Kennit spie über die Reling. »Prahlerei! Soll ich das bewundern oder gar fürchten? Viviace war mutiger und stärker als du, Schiff, was du auch sein magst. Du flüchtest dich in die Überlegenheit des Rohlings: in das, was du zerstören kannst. Dann vernichte uns und bringe die Sache hinter dich. Ich kann dich nicht daran hindern, wie du sehr wohl weißt. Doch wenn du dann als Wrack auf dem Meeresgrund liegst, wünsche ich dir viel Spaß mit dieser Erfahrung.« Er drehte ihr entschlossen den Rücken zu. Er musste jetzt gehen, das war ihm klar. Er musste weitergehen, sonst würde sie ihn überhaupt nicht respektieren.
Er hatte beinahe das Ende des Vordecks erreicht, als das Schiff plötzlich einen gewaltigen Satz machte. Der Mann im Ausguck schrie laut auf, und die Mannschaft in ihren Hängematten unter Deck keuchte vor Überraschung. Der Maat am Ruder schrie eine verärgerte Frage. Kennits Krücke rutschte auf dem glatten Deck weg, und er verlor das Gleichgewicht. Er stürzte rücklings zu Boden, und seine Ellbogen schlugen hart auf dem Holz auf. Der Sturz raubte ihm vorübergehend den Atem.
Als er keuchend auf dem Deck lag, richtete sich das Schiff wieder auf. Im nächsten Augenblick war alles wie zuvor, bis auf die fragenden, beunruhigten Stimmen der Seeleute. Das leise, melodiöse Lachen der Galionsfigur verhöhnte ihn. Und eine leisere Stimme sprach direkt neben Kennits Ohr. Der winzige Hexenholztalisman an seinem Handgelenk meldete sich zu Wort. »Geh nicht einfach weg, du Narr! Du darfst einem Drachen niemals den Rücken zukehren. Wenn du das tust, hält er dich für so dumm, dass du bloß die Vernichtung verdient hast.«
Selbst das Atmen tat Kennit weh.
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