Zaubersommer in Friday Harbor
rauschen.
„Und
dann ist er einfach
abgehauen”, erzählte Lucy später an diesem Morgen Justine und Zoë, „als
habe ihn eine Tarantel gestochen. Er hat kaum noch ein Wort zu mir gesagt. Ich
kann nicht mal beurteilen, ob er wütend war oder in Panik oder beides.
Vermutlich beides.”
Nachdem Sam
gegangen war, hatte Lucy sich auf den Weg zur Frühstückspension gemacht, um
ihre Freundinnen zu besuchen. Sie saßen in der Küche, Becher mit dampfendem
Kaffee vor sich. Lucy war nicht die Einzige, die Probleme hatte. Zoës sonst so fröhliches Gemüt litt
unter Sorgen um ihre Großmutter, deren Gesundheit angeschlagen war. Justine
hatte sich gerade von Duane getrennt, und obwohl sie sich Mühe gab, das Ganze
leichthin abzutun, war offensichtlich, dass die Trennung sie belastete.
Als Lucy
fragte, was den Bruch ausgelöst hatte, antwortete Justine ausweichend: „Ich ...
habe ihm versehentlich Angst gemacht.”
„Wie? Hast
du einen Schwangerschaftstest im Bad liegen lassen oder so was?”
„Großer
Gott, nein.” Justine winkte ungeduldig ab. „Ich will nicht über meine
Probleme reden. Deine sind viel interessanter.”
Nachdem sie
von Sams seltsamem Verhalten erzählt hatte, stützte Lucy ihr Kinn in die Hand
und zog eine mürrische Miene. „Warum rastet jemand aus, nur weil er eine Nacht
in einem Bett verbracht hat?”, fragte sie. „Warum hat Sam kein Problem
damit, Sex mit mir zu haben, aber dreht völlig durch, wenn es darum geht, in
einem Bett mit mir zu schlafen?”
„Der Ort,
an dem wir schlafen, ist zugleich der Ort, wo wir am verletzlichsten
sind”, erklärte Justine. „Wir sind bewusstlos. Wenn also zwei Menschen in
einem Bett schlafen, in diesem äußersten Zustand der Verletzlichkeit, ist das
ein gewaltiger Vertrauensbeweis. Daraus entsteht eine andere Nähe als aus Sex – aber sie ist genauso mächtig.”
„Und Sam
lässt keine Nähe zu. Zu niemandem”, resümierte Lucy und schluckte, um die
Enge in ihrer Kehle loszuwerden. „Das ist ihm zu gefährlich. Denn er und seine
Geschwister wurden immer wieder von den Menschen verletzt, die sie eigentlich
am meisten hätten lieben sollen.”
Justine
nickte. „Unsere Eltern bringen uns bei, wie wir Beziehungen knüpfen und
pflegen. Sie zeigen uns, wie man das macht. Es ist schwer, später noch
umzulernen.”
„Vielleicht
kannst du mit Sam reden”, schlug Zoë vor und legte eine Hand auf Lucys
Arm. „Manchmal hilft es, wenn man etwas offen anspricht ...”
„Nein. Ich
habe mir selbst versprochen, dass ich nicht versuchen werde, ihn zu ändern
oder zu therapieren. Sam muss sich allein um seine Probleme kümmern. Und ich
mich um meine.” Lucy war nicht bewusst, dass ihr Tränen über die Wangen
rollten, bis Justine ihr eine Serviette reichte. Schniefend und seufzend
putzte sie sich die Nase und erzählte ihnen dann, dass man ihr ein Stipendium
am Mitthell Art Center angeboten hatte.
„Du nimmst
das an, oder?”, fragte Justine.
„Ja. Ich
gehe ein paar Tage nach Alices Hochzeit.”
„Wann
willst du es Sam sagen?”
„Erst im
allerletzten Moment. Ich möchte die Zeit, die wir noch haben, in vollen Zügen
genießen. Und wenn ich es ihm erzähle, wird er mir sagen, dass ich gehen soll
und dass er mich vermissen wird ... aber innerlich wird er unglaublich
erleichtert sein. Denn er kann genauso fühlen wie ich, was mit unserer Beziehung
passiert. Wir lassen uns immer mehr aufeinander ein, und das muss enden, bevor
es zu weit führt.”
„Warum?”,
fragte Zoë leise.
„Weil wir
beide gleichermaßen wissen, dass er mir wehtun wird. Er wird nie sagen können Ich
liebe dich und sein Herz an jemanden verschenken.” Sie putzte sich
erneut die Nase. „Dieser letzte Schritt ist für ihn der Hammer. Er führt ihn
an einen Ort, den er auf keinen Fall besuchen will.”
„Es tut mir
leid, Lucy”, murmelte Justine. „Ich hätte dich nie ermutigt, etwas mit Sam
anzufangen, wenn ich gewusst hätte, dass es dich unglücklich machen würde. Ich
dachte, du brauchst ein bisschen Spaß und Ablenkung.”
„Ich hatte
Spaß und Ablenkung”, sagte Lucy ernsthaft und wischte sich die Augen.
„Das sehe
ich”, gab Justine zurück, und Lucy musste unwillkürlich unter Tränen
kichern.
Als sie
später an diesem Nachmittag in ihrem Atelier arbeitete, wurde sie von einem
Klopfen an der Tür unterbrochen. Sie legte ihr Glasschneidewerkzeug beiseite
und richtete ihren Pferdeschwanz, während sie an die Tür ging, um den
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