Zaubersommer in Friday Harbor
bestimmte Zeit der Arbeit an dem Buntglasfenster für das Haus
an der Rainshadow Road. Es war ein kompliziertes und ehrgeiziges Projekt, das
all ihre technischen Fertigkeiten verlangte. Lucy war wie besessen von der
Vorstellung, jedes Detail richtig machen zu müssen. All ihre Gefühle für Sam
schienen in das Glas zu fließen, als sie die Stücke zurechtschnitt und zu einem
Bild gewordenen Gedicht zusammenfügte. Die Farben waren natürliche Erd-, Baum-,
Himmels- und Mondfarben, und Lucy verschmolz das Glas in mehreren Schichten, um
dem Bild Dreidimensionalität zu verleihen.
Nachdem das
Glas seine endgültige Form hatte, zog Lucy die Bleiruten mit Hilfe von
Schraubstock und Zange heraus. Sie setzte das Fenster sorgfältig zusammen,
fügte die Glasstücke in den Bleirahmen ein, schnitt ihn anschließend zurecht
und passte ihn an. Wenn der innere Bleirahmen fertig war, ging es an den
u-förmigen Außenrahmen für die Randbezirke des Bildes. Danach waren die
Lötarbeiten dran, und anschließend wurde alles mit Kitt wasserdicht gemacht.
Während das
Fenster auf ihrem Arbeitstisch langsam Form annahm, spürte Lucy eine seltsame
Wärme im Glas. Ein Glühen, das nichts mit der Hitze zu tun hatte, die von den
Lötstellen im Metall ausging. Eines Abends, als sie ihr Atelier schließen
wollte, warf sie zufällig einen Blick auf das unfertige Fenster, das flach auf
dem Arbeitstisch lag. Das Glas schien zu glühen, als besäße es eine eigene
Lichtquelle.
Seit der
Nacht, in der Sam in ihrer Wohnung geschlafen hatte, war ihre Beziehung eine
platonische. Platonisch, aber nicht asexuell. Sam hatte sich allergrößte Mühe
gegeben, sie zu verführen – mit schmachtenden Küssen und leidenschaftlichen Spielen,
die sie beide vor unerfülltem Verlangen fiebern ließen. Aber Lucy hatte Angst
vor der durchaus realistischen Möglichkeit, sie könnte, wenn sie jetzt mit ihm
schlief, herausposaunen, wie sehr sie ihn liebte. Die Worte waren da, in ihrem
Kopf, auf ihren Lippen. Sie waren fast die ganze Zeit da und drängten danach,
ausgesprochen zu werden. Nur ihr Selbsterhaltungstrieb gab ihr die Kraft, Sam
zurückzuweisen. Und obwohl er ihre Ablehnung zunächst mit Würde akzeptiert
hatte, fiel es ihm offensichtlich immer schwerer, sie in Ruhe zu lassen.
„Wann?”,
hatte er nach ihren letzten Zärtlichkeiten gefragt. Sein Atem streifte ihre
Lippen, und in den Augen loderten gefährliche Flammen.
„Ich weiß
nicht”, gab Lucy schwach zurück und erschauerte, als er ihren Rücken und
ihre Hüften streichelte. „Erst muss ich mir meiner selbst sicher sein.”
„Lass mich
dich haben”, flüsterte er und lehnte seine Stirn an ihre. „Lass mich dich
die ganze Nacht lieben. Ich möchte wieder neben dir aufwachen. Sag mir einfach,
was du brauchst, Lucy, und ich tue es.”
Lieben. Nie
zuvor hatte er das so genannt. Dieses eine Wort spannte ihr Herz wie in einen
Schraubstock. Das war die Qual, die darin lag, Sam zu lieben: dass er bereit
war, so viel Nähe zuzulassen – und doch nicht genug.
Und weil
sie das, was sie am meisten brauchte – nämlich dass er sie liebte –, unmöglich
haben konnte, wies sie ihn erneut ab.
Lucy
vollendete das
Fenster zwei Tage vor Alices Hochzeit. Die Gäste kamen bereits von überall her
angereist. Die meisten quartierten sich in Ferienhäuschen im Roche Harbor
Resort ein oder nahmen sich Zimmer im Hotel de Haro. Lucys Eltern waren
am Morgen angekommen und hatten den Tag mit Alice und der
Hochzeitskoordinatorin verbracht. Morgen würde Lucy mit ihnen zu Mittag essen,
aber an diesem Abend ging sie mit Sam aus. Heute wollte sie ihm sagen, dass sie
aus Friday Harbor fortging.
Ihre
Gedanken wurden unterbrochen, als jemand an die Tür des Ateliers klopfte.
„Immer herein”, rief sie, „die Tür ist offen.”
Zu ihrer
Überraschung war es Kevin.
Ihr
Exfreund grinste sie kleinlaut an. „Lucy. Hast du etwas Zeit für mich?”
Unsicher
nickte sie. Sie hoffte, dies sei kein Versuch, Frieden zu schließen, über die
gemeinsame Vergangenheit zu reden und Schönwetter zu machen, damit sein
Hochzeitstag mit Alice makellos verlief. Das war absolut unnötig. Lucy hatte
ihn längst überwunden – Gott sei Dank –, und sie wollte die Vergangenheit
ruhen lassen. Das Letzte, wonach ihr jetzt der Sinn stand, war eine Autopsie
ihrer Vergangenheit.
„Du kannst
ein paar Minuten reinkommen”, antwortete sie vorsichtig, „aber ich habe
sehr viel zu tun. Und ich bin sicher, du bist mit den ganzen
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