Zaubersommer in Friday Harbor
Holly.
„Wir können
gleich damit anfangen. Der erste Schritt einer Glasarbeit besteht im Entwurf.
Hast du Buntstifte und Papier?”
Holly
flitzte zu ihrem Malkasten, holte ein paar Utensilien heraus und eilte zurück
zu Lucy. „Kann ich zeichnen, was ich will?”
„Kannst du.
Vielleicht müssen wir das Ganze später vereinfachen, damit die Stücke die
richtige Form und Größe haben, um zurechtgeschnitten zu werden ... aber erst
mal kannst du deiner Fantasie freien Lauf lassen.”
Holly
kniete sich vor den Couchtisch und breitete ihren Zeichenblock darauf aus.
Sorgfältig schob sie ein Apothekerglas beiseite, das als Miniterrarium diente
und mit Moos, winzigen Schwertfarnen und weißen Zwergorchideen gefüllt war.
„Wolltest du schon immer Glaskünstlerin werden?”, fragte sie und sortierte
ihre Stifte.
„Seitdem
ich so alt war wie du.” Sanft nahm Lucy dem Mädchen die rosa
Baseballkappe ab, drehte den Schirm nach hinten und setzte sie ihr wieder auf,
damit sie besser sehen konnte, was sie tat. „Was willst du denn mal werden, wenn
du groß bist?”
„Balletttänzerin
oder Tierpflegerin.”
Während
Lucy zusah, wie Holly sich auf ihre Zeichnung konzentrierte, die Buntstifte in
den kleinen Händen, erfüllte sie eine tiefe Befriedigung. Wie natürlich es für
Kinder doch war, sich in künstlerischem Schaffen auszudrücken. Ihr kam der Gedanke,
dass sie in ihrer Werkstatt Kunstunterricht für Kinder anbieten könnte. Gab es
eine bessere Möglichkeit, ihre Kunst zu ehren, als sie einem Kind zu
vermitteln? Sie konnte mit ein paar Schülern anfangen, erst mal sehen, wie es
lief.
Sie ließ
sich die Idee durch den Kopf gehen, träumte vor sich hin und spielte dabei mit
dem leeren Saftglas. Mit dem Daumen fuhr sie über das Noppenmuster. Ohne
Vorwarnung wurden ihre Finger heiß, und das Glas verwandelte sich in ihrer
Hand. Erschrocken beugte Lucy sich vor, um es abzusetzen, aber im nächsten
Moment war es schon verschwunden, und ein kleines lebendiges Etwas schoss von
ihrer Handfläche fort. Mit lautem Brummen schwirrte es durchs Zimmer.
Holly
schrie auf und sprang aufs Sofa, sodass Lucy vor Schmerz zusammenzuckte. „Was
ist das?”
Verdutzt
schlang Lucy ihre Arme um das Mädchen. „Alles in Ordnung, Schatz. Es ist nur
... es ist ein Kolibri.”
Noch nie
war ihr so etwas in Gegenwart anderer passiert. Wie sollte sie das Holly
erklären? Der winzige rote Vogel prallte beim Versuch, nach draußen zu kommen,
gegen das geschlossene Fenster. Der Aufprall des zarten Körpers und des
Schnabels war deutlich zu hören.
Lucy beugte
sich mühsam vor, fasste den Fenstergriff und versuchte, das Schiebefenster zu
öffnen. „Holly, hilfst du mir bitte mal?” Gemeinsam kämpften sie mit dem
Fenster, aber es rührte sich nicht. Es war verklemmt. Der Kolibri schwirrte hin
und her und prallte erneut gegen das Glas.
Holly
schrie noch einmal auf. „Ich hole Onkel Sam!”
„Warte ...
Holly ...” Aber die Kleine war schon wie der Blitz aus der Tür.
Ein
Schrei von unten,
und Sam ließ den Müllsack mit dem Schutt fallen. Das war Holly. Er war so auf
ihre Stimme sensibilisiert, dass er sofort den Unterschied zwischen Hollys
Schreien erkannte. Immer wusste er sofort, ob es sich um einen Freuden-, einen
Angst- oder einen Wutschrei handelte. „Das ist so, als könnte ich die Sprache
der Delfine verstehen”, hatte er Mark einmal erklärt.
Dieser
Schrei klang erschrocken. War Lucy irgendetwas passiert? Sam eilte zur Treppe
und lief hinunter, zwei oder drei Stufen auf einmal nehmend.
„Onkel
Sam!”, hörte er Holly rufen. Am Fuß der Treppe trafen sie aufeinander, sie
hüpfte aufgeregt auf und ab. „Komm und hilf uns!”
„Was ist
los? Geht's dir gut? Ist Lucy ...” Er folgte ihr ins Wohnzimmer,
und etwas brummte an seinem Ohr vorbei, etwas, das einer Biene von der Größe
eines Golfballs ähnelte.
Sam konnte
sich gerade noch zusammenreißen, nicht danach zu schlagen.
Glücklicherweise, denn als das Etwas in eine Ecke an der Decke flog und gegen
die Wand prallte, erkannte er, dass es sich um
einen Kolibri handelte. Der Vogel gab winzige Piepslaute von sich, seine
Flügel bewegten sich so schnell, dass man nur ein Flirren sah.
Lucy saß
auf dem Sofa und kämpfte mit dem Fenster.
„Hör
auf”, sagte Sam barsch und war mit drei Schritten bei ihr. „Du wirst dir
nur wehtun.”
„Er fliegt
andauernd gegen die Wände und Fenster”, antwortete Lucy atemlos. „Ich krieg
dieses dämliche Ding nicht
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